Die Berliner Umwelt-Bibliothek

Links, anarchistisch und auch immer ein wenig chaotisch

Von Dietmar Wolf

Wenn man mich fragen sollte, wo ich die Umwelt-Bibliothek Berlin (kurz: UB) politisch einsortieren würde, käme mir die Antwort ganz leicht über die Lippen: links, anarchistisch. Die Mitarbeiter der UB wendeten sich stets gegen jede Form von Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung, stritten für die Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Ihr Handeln war antistalinistisch, aber auch antikapitalistisch und antifaschistisch. Sie waren gegen die Zerstörung der Umwelt im Allgemeinen und gegen Atomkraft im Besonderen. Sie wendeten sich bewusst gegen jede Form von Militär und Krieg. Sie kämpften gegen die Herrschaft der SED, aber auch gegen die Auslieferung der DDR an die BRD. Sie lehnten die staatssozialistische Kommandowirtschaft genau so ab, wie die Wolfsgesetze des kapitalistischen Ausbeutungssystems. Die UB war ein offenes Haus für viele. Prägend waren anarchistische Theorien einer herrschaftslosen Gesellschaft, jenseits des Diktats von Ideologie und Machtinteressen. „Die Gesellschaft teilte sich in Herrschende und Opfer. Herrschaft zerstörte nicht nur Menschen, sondern auch die Natur. Eine Versöhnung von Mensch und Natur konnte nur in einer herrschaftslosen Gesellschaft geschehen“[1]. Das Handeln der UB fußte auf basisdemokratischen Grundprinzipien und für rechtes und konservatives Gedankengut gab es in der UB keinen Raum. „Entscheidungen wurden in wöchentlichen Versammlungen der Umwelt-Bibliothek getroffen“ und es gab dabei das „immer präsente Bestreben, alle zu Wort kommen zu lassen. Grundlegend dafür waren die anarchistischen, nämlich herrschaftsfeindlichen Denkansätze“[2]. Das brachte der Umwelt-Bibliothek in Teilen der Opposition den Ruf ein, die „Umwelt-Bibliothek bestehe im übrigen aus lauter Chaoten und habe keine festen Strukturen und kein Konzept.“[3]

 

AG-Mauerstein und Igor Tatschke

Meine erste Begegnung mit der Umwelt-Bibliothek Berlin war im Frühjahr 1987 die Eröffnung der UB-Galerie. Diese sollte ein Ort sein, in dem Künstler ausstellen können, die in den staatlichen Galerien keine Möglichkeit dazu bekommen. Außerdem gab es ein kleines Café. Einer der wichtigsten Ausstellungen war ohne Zweifel die Punk-Art-Ausstellung der AG-Mauerstein mit Igor Tatschke.

AG Mauerstein Ausstellung in der Umwelt-Bibliothek AG Mauerstein-Ausstellung in der Umwelt-Bibliothek

Vorher gab es eine AG Mauerstein-Ausstellung in der Privatgalerie von Jörg Delloch. Diese Ausstellung rief derart großes Interesse hervor, dass sie von der Polizei geschlossen wurde. Nachdem der Betreiber für den Fall der Weiterführung mit einer hohen Geldstrafe bedroht wurde, zog die Ausstellung in die UB-Galerie um. Bei der Wiedereröffnung in der UB-Galerie kam es zu „tumultartigen Szenen“[4]. Ich erinnere mich gut an diesen Abend. Im Frühjahr 1987 war ich 21 Jahre alt. Ein knappes Jahr zuvor hatte ich meine 18 Monate NVA[5] abgerissen. Meine Freundin hatte mit mir Schluss gemacht, ich arbeitete im Schichtdienst, war komplett unpolitisch, desorientiert und interessierte mich eigentlich nur für Mädchen, Disco und Saufen. Ich wusste zwar, dass es eine so genannte Oppositionsszene gab, in der sich meine Eltern sehr intensiv bewegten. Doch für mich war das eigentlich nicht. Alle Versuche meines Vaters, mich dafür zu interessieren, schlugen bis dahin fehl. Ein guter Freund fragte mich, ob ich Lust hätte, zu einer Super-Fete mitzukommen. Allerdings wäre die in einer Kirche. Nach anfänglichen Bedenken willigte ich ein und wir gingen in die Gribenowstraße zur Zionskirch-Gemeinde.

Schon auf der Straße vor dem Gemeindehaus und im Innenhof herrschte reger Betrieb. Überall standen Punks, Gruftis und langhaarige Typen herum. Aus der obersten Etage des Hinterhofs dröhnte Musik. Wir gingen hoch. Ab der 2. Etage war kaum ein Durchkommen. Man musste sich an und über Körper vorbei drängeln. Oben angekommen war es noch schlimmer. Auch hier Punks, Gruftis und Langhaarige wohin man sah. Ein Anblick, der für mich völlig neu war. Die Musik dröhnte ohrenbetäubend. Die Luft war zum schneiden. Es stank nach Tabak, Alkohol und Schweiß. Meinen Freund hatte ich schon nach kurzer Zeit aus dem Auge verloren und sollte ihn an diesem Abend auch nicht wieder sehen. Ich war erschüttert und gleichzeitig fasziniert. Die Ausstellung, oder besser das, was ich auf Grund des Platzmangels sehen konnte, ist in meiner Erinnerung nur mit Worten wie „extrem“, „krass“ oder „bizarr“ zu benennen. Ein wildes Durcheinander in schwarz-weiß. Dunkelste Comic-Art, vermengt mit Wortfetzen von scheinbar sinnlos bis obszön begleitet. Nach etwa einer Stunde war ich so geplättet, dass ich den Ort verlassen musste und völlig verstört nach Hause ging.

Ein halbes Jahr später war ich dann selbst Mitglied der DDR-Opposition und für die nächsten Jahre der Gang zur UB fast alltäglich.

 

Naziangriff auf die Zionskirche und Antifa in der UB

Meine zweite Begegnung mit der UB bzw. mit der Zionskirche, war das Rockkonzert der Bands „Firma“ und „Element of Crime“. Im Sommer 1987 gab ich den Werbungen meines Vaters nach und trat dem Friedenskreis Friedrichsfelde bei. Gleichzeitig interessierte ich mich für die Kirche von Unten, die sich, in Folge des Kirchentags von Unten, gründete.[6] Zum Leidwesen meines Vaters, einem ausgemachten Marxisten, wendete ich mich im Laufe der nächsten Monate mehr und mehr der KvU und dem Anarchismus zu.

Kassettencover von „Die Firma“ aus dem Jahr 1987 Kassettencover von „Die Firma“ aus dem Jahr 1987

Auf dem Kirchentag von Unten lernte ich Leute aus Weimar kennen. In den folgenden Monaten hielten wir weiter Kontakt, besuchten uns gegenseitig. Im November besuchten mich zwei der Weimarer in Berlin. Am 17. Oktober 1987 gingen wir zum Konzert in die Zionskirche. Wir kamen viel zu spät und erlebten leider nur noch den Rest. Das Konzert war zu Ende und die Leute sickerten durch den kleinen Seiteneingang der Zionskirche auf den Vorplatz.

Plötzlich wurde es unruhig, laut, Gerangel. Die Menschen drängen zurück in die Kirche. Rufe: Nazis!, Nazis! Angst. Alles drängt sich an die Ränder, sucht Schutz. Plötzlich stehen mehrere Nazis im Kirchenraum, brüllen Parolen, eine Flasche wird geworfen. Ein Kirchenmitarbeiter will mit den Nazis reden, die aber ihn sofort körperlich angreifen. Jetzt regt sich Widerstand. „Nazis raus“-Rufe, die Leute fassen Mut und drängen die Nazis aus der Kirche. Als ich wenig später auf den Platz trete, sind die Nazis bereits verschwunden. Was später klar wird: Etwa 30 Nazis kamen von einer Geburtstagsfeier aus dem Diskosputnik, einem Jugendclub an der Ecke Greifswalder/Marienburger Straße. Schon auf dem Weg zur Kirche wurden wahllos Passanten angegriffen. Am Zionskirchplatz angelangt, schlugen sie, Naziparolen grölend, auf Konzertbesucher ein.

Weil Polizeieinheiten, die in den Nebenstraßen bereit standen die Nazis gewähren ließen, konnten diese wieder unbehelligt abziehen. Der Versuch von Polizei, Justiz und SED, diesen Vorfall zu bagatellisieren, schlug fehl. Anteil daran hatte auch die hartnäckige Öffentlichkeitsarbeit der Umwelt-Bibliothek, die eine Vertuschung durch die DDR-Oberen von vornherein verhinderte. Schon nach ein paar Tagen des Schweigens war dann auch in der DDR-Presse in kleinen Meldungen von einem Übergriff von „Rowdys“ zu lesen. Einige Tage später wurden 4 Nazis verhaftet, im Dezember 1987 vor Gericht gestellt und in 2. Instanz zu 1,6 bis 4 Jahren Haft verurteilt.

Die "Umweltblätter" berichteten damals in ihrer Ausgabe vom 1. September 1987 ausführlich über den Überfall. Durchaus selbstkritisch ging die UB mit sich selbst als Veranstalter des Konzerts und mit den ängstlichen Verhalten der Konzertbesucher zu Gericht:

"Die schon immer vorhandenen Bemühungen um eine Anti-Nazi-Liga sind seit dem Konzert in der Zionskirche in eine neue Phase getreten, ohne dass völlige Einigkeit über die einzuschlagende Taktik herrscht. Eine Infogruppe will die neonazistischen Umtriebe durch Veranstaltungen und Eingaben öffentlich machen und die Behörden zum Eingreifen zwingen. Außerdem soll theoretische Arbeit geleistet werden. Eine Veranstaltungsgruppe „Künstler gegen rechts“ soll offenbar die notwendige Solidarität herstellen. Andere setzen mehr auf Gleichziehen mit den Skins in den Kampftechniken und wollen eine entsprechende Selbstausbildung machen. (…) All das wirkt ein wenig hilflos, angesichts der rapiden Zunahme des manifesten Neofaschismus und der ohnehin bei der Mehrheit der Bevölkerung vorhandenen latenten Bereitschaft zu faschistoiden Denken (Ausländerhass, Hass gegen Fremdgruppen, überhaupt, Sündenbockmagie statt Analyse)."[7]

Aus dem Versuch, eine Anti-Nazi-Liga zu gründen, wird jedoch nichts. Die Anti-Nazi-Liga kommt nicht aus dem Gründungsstatus heraus. Zu verschieden sind die Vorstellungen, zu diffus sind die Vorstellungen, zu diffus sind die Zielsetzungen. Von Westberliner Antifas erfahre ich später, Anfang der 90er Jahre, dass sie damals, 1987, sich erstmals mit einigen von diesen Leuten in der Umwelt-Bibliothek getroffen hatten. Die Ostler aus der UB glaubten, die Westberliner Antifa wäre eine Art marodierende Stadtguerilla, die unter den Westnazis Angst und Schrecken verbreiten würde. Man ging auseinander und sah sich nie wieder.

Erst April 1989 gründeten wir in der Kirche von Unten die erste ernst zu nehmende Ostberliner Antifagruppe. Unter anderem entstand eine eigene Zeitung, die auf dem Computer der Umwelt-Bibliothek geschrieben, gesetzt und auf den Druckmaschinen der UB und der KvU gedruckt wurde.

 

Stasiangriff auf die UB

Einen Monat nach dem Überfall der Skinheads auf die Zionskirche widerfährt der Kirchengemeinde ein Überfall ganz anderer Art. Am 18. November 1987 startet das MfS die „Aktion Falle“ gegen die in der Zionsgemeinde ansässige Umwelt-Bibliothek. Durch Informationen eines IM wusste die Stasi, dass am 18. Oktober im UB-Keller der oppositionelle „Grenzfall“ gedruckt werden sollte. Doch da ein Auto nicht ansprang, kamen die Grenzfall-Redakteure nicht und als die Stasi stürmte, fand sie lediglich UB-Redakteure beim Druck der Umweltblätter vor. Doch die Stasi will nicht klein beigeben. Die Räume werden durchsucht, unzähliges Material beschlagnahmt, die Mitarbeiter der Umwelt-Bibliothek werden festgenommen. Die politische Opposition reagiert prompt. In der Zionskirche wird eine Mahnwache installiert. Neben der Forderung nach sofortiger Freilassung der Inhaftierten und der Rückgabe der beschlagnahmten Sachen, wurden auch Forderungen nach demokratischen Grundrechten aufgestellt. Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, usw.

Ich erfahre von der Inhaftierung am nächsten Tag und mache mich gleich nach Feierabend auf den Weg zur Zionskirche. Dort angekommen befinden sich schon eine menge Leute in und vor der Kirche. In sicherer Entfernung patrouillieren Volkspolizisten und Herren in Zivil. Aussehen und Verhalten lassen auf auffällig unauffällige Stasi-Leute schließen. Es könnten natürlich auch Zivilpolizisten gewesen sein, oder beides. Auch in den Gemeinderäumen und der UB ist reges Treiben. Zwischen Gemeindehaus und Kirchplatz wuselt es hin und her. Die umliegenden Bewohner des Zionskirchplatzes und der angrenzenden Straßen bringen Essen und Trinken, sprechen ihre Anteilnahme aus. Trotz des traurigen Anlasses bin ich euphorisiert. Derartiges habe ich bis dahin noch nicht erlebt. Mein Entschluss, Teil der DDR-Oppositionsbewegung zu werden, manifestiert sich in diesen Tagen des Offenen Widerstandes gegen die staatliche Repression der SED. In den folgenden Tagen nimmt die Solidarität der Menschen weiter zu. Eine Welle der Sympathie und der Solidarität schwappt durch das ganze Land. Die Umwelt-Bibliothek und die Zionskirche werden, innerhalb kürzester Zeit erneut landesweit bekannt. Dafür sorgen natürlich auch die Westmedien, gefüttert mit Informationen aus dem Osten.

Nach einer Woche werden alle Inhaftierten entlassen. Am gleichen Abend findet ein Art Siegesveranstaltung in der Zionskirche statt. Diese ist gerammelt voll. Rechtsanwalt Schnur verkauft die Freilassung als großen Sieg. Die Forderungen nach Rückgabe der beschlagnahmten Sachen und nach demokratischen Grundrechten bleiben jedoch unerfüllt. Bei mir macht sich neben der Freude auch Enttäuschung breit. Aufrufe weiter zu kämpfen, bis alle Forderungen erfüllt sind, bleiben vereinzelt und ungehört. Die Bewegung bleibt auf halben Weg stehen und begnügt sich mit dem Erreichten.

 

Die Staatsbürgerschaftsgruppe und die Luxemburg-Affäre

Ab dem Herbst 1987 hatten die DDR-Oppositionsgruppen, und die Umwelt-Bibliothek Berlin im Besonderen, mit einem ganz anderen Problem zu tun: den Ausreisewilligen der Staatsbürgerschaftsgruppe. Ein Kapitel, das eher als Dunkel denn als Licht bezeichnet werden muss. Für mich, der ich zu dieser Zeit erst am Beginn meiner oppositionellen Tätigkeit stand, waren diese Ereignisse ein erstaunliches Wechselbad der Gefühle. War ich während der Zions-Affäre im November 1987 nur am Rande, quasi als engagierter Interessent beteiligt, gehörte ich während der Luxemburg-Affäre im Januar 1988, sicherlich auch protegiert durch meinen Vater[8], damals einer der wichtigsten Berliner DDR-Oppositionellen, sofort zur Koordinationsgruppe der Solidaritätsaktionen für die Inhaftierten und hatte die Gelegenheit am 20. Januar (also fünf Tage vor der so genannten zweiten Verhaftungswelle) an einem sagen wir mal Innercircle-Treffen der Berliner Opposition im Atelier von Bärbel Bohley teilzunehmen, wenn auch nur als schweigender Zaungast.

Dieses Treffen war geprägt von starken Differenzen, auch wenn im Ergebnis gemeinsames Handeln beschlossen wurde. Maßgebliche Akteure im Diskurs waren hier, wie nicht selten, Vertreter des Friedenskreises Friedrichsfelde und der Gruppe Gegenstimmen als Befürworter einer linken/marxistischen Alternative zum herrschenden SED-Staat auf der einen Seite und Mitglieder der Initiative Frieden und Menschenrechte auf der anderen Seite. Während die Protagonisten der IfM in der Öffentlichkeit eine „parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster“[9] ausschlossen, zogen sie aber, im Zuge des politischen Umbruchs und des Machtverlustes der SED genau diese westliche Parteiendemokratie den „Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbstverwaltung“[10] und einer sozialistischen Alternative zum SED-Staat vor. Auch auf den täglichen Sitzungen der Koordinierungsgruppe waren, wenn man genau hinhörte, inhaltliche ideologische Dissonanzen unüberhörbar, auch wenn sie nicht offen ausgetragen wurden.

Letztendlich traten, so scheint es mir, schon damals bei einigen Oppositionellen jene Tendenzen zu Tage, die dann ab Herbst 1989 ihren politischen Werdegang bestimmten. So war, zu mindestens im Nachhinein, die Luxemburg-Affäre auch eine der ersten inhaltlichen Zäsuren innerhalb der DDR-Opposition, die die Konturen der jeweilig beteiligten Gruppen und Personen deutlicher nachzeichnete, als es vorher geschehen war.

Auch wenn die Luxemburg-Affäre natürlich kein reines Thema der Umwelt-Bibliothek war, war diese doch unmittelbar betroffen und mit der exklusiv räumlichen Nähe zur Staatsbürgerschaftsgruppe immerhin mehr als manch andere Gruppe. Die Luxemburg-Affäre war für alle Oppositionsgruppen derart einschneidend und nachhaltig, dass mir eine ausführliche Schilderung der Abläufe wichtig und unumgänglich erscheint.

Bis zum 13. August 1961 flohen etwa drei Millionen DDR-Bürger in den Westen. Dann kam die Mauer und zwischen 1961 und 1988 gelangten nur noch 570.000 Menschen in den Westen, die meisten durch Freikauf der BRD-Regierung oder durch Flucht. Nur selten wurden offizielle Ausreiseanträge durch die DDR-Behörden bewilligt. Die Zahl der laufenden Ausreiseanträge lag sehr wahrscheinlich im Bereich von ein bis zwei Millionen, vielleicht waren es auch mehr.

Bei aktiven DDR-Oppositionellen sah das ganz anders aus. Sie hatten kaum Probleme in den Westen zu kommen. Im Gegenteil. Sie wurden in manchen Fällen auch gegen ihren Willen nach drüben verfrachtet. Für so manchen DDR-Oppositionellen war dieser Umstand eine sichere Bank in der Hinterhand. Wenn es eng wird, könne man immer noch in den Westen abrauschen. Aber es gab auch Einige, die es regelrecht darauf anlegten. Ihr politisches Ziel war nicht die Reform der DDR oder der Sturz der SED, sondern die Ausreise in die BRD. Bis zum Herbst 1987 waren Ausreiser ein wenig beachteter Teil innerhalb der DDR-Opposition.

Ab dem 22. September 1987 änderte sich das. Im Berliner Eiscafé Tutti Frutti, in der Karl-Liebknecht-Straße, gründete sich die „Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht der DDR“. Ihre Ansätze waren einfach. Hier drehte sich thematisch alles um Ausreise. Es ist im Nachhinein erstaunlich, dass die Ausreiser bis 1987 brauchten, um zu erkennen, dass oppositionelle Tätigkeit in der DDR die Fahrkarte in den Westen sein konnte. Da jedoch der Zugang in die für Außenstehende scheinbar abgeschotteten und misstrauischen Oppositionsgruppen stets schwierig war, schufen sich die Ausreiser mit der Gründung der Staatsbürgerschaftsrechtsgruppe ihr eigenes Instrument zum glaub- und massenhaften Eintritt in die DDR-Oppositionsbewegung. Schon bald entwickelte die Staatsbürgerschaftsgruppe die Strategie, gezielt an eine aktive Oppositionsgruppe anzudocken. Doch das wurde von den bestehenden Berliner Gruppen abgelehnt. Die Angst vor einem massenhaften Ansturm von Ausreisern, welche die Inhalte der Gruppen in ihre „politische“ Richtung verändern würden, war zu groß.

Dem gegenüber waren die Umwelt-Bibliothek und der Pfarrer der Zionsgemeinde Simon bereit, der Staatsbürgerschaftsgruppe die Räume der Zions-Gemeinde für ein monatliches Treffen zur Verfügung zu stellen. Am 3. Oktober trafen sich erstmals 30 Ausreiser, am 31. Oktober bereits 40. Sogleich beschlossen sie, ihre Treffen auf einen vierzehntäglichen Rhythmus zu verkürzen. Ihr drittes Treffen fand am 14. November statt. Nun erschienen zunehmend „wohl angepasste DDR-Bürger in typischem Aufzug, Stonewashed-Jeans-Anzügen, massenhaft in der Zionsgemeinde. Den Mitgliedern der Oppositionsgruppen bereitete der Anblick Bauchschmerzen. In solchem Aufzug waren ansonsten Spitzel der Staatssicherheit im Umkreis der Gruppen aufgefallen.“[11] .

Das vierte Treffen fand, ungeachtet der Zionsaffäre und nur unter „widerwilliger Zustimmung der Umwelt-Bibliothek“[12] am 28. November statt. Die UB befürchtete hier eine Vermengung der Themen. Auf diesem Treffen unterzeichneten 44 Personen eine „Erklärung zum Tag der Menschenrechte“. Diese wurde dann am 10. Dezember 1987, dem Tag der Menschenrechte, von 30 Personen unter dem Schutz des Stadtjugendpfarrers Hülsemann in der Poststelle der Volkskammer abgegeben.

Das fünfte und letzte Treffen der Staatsbürgerschaftsgruppe fand dann am 12. Dezember in den Räumen der UB-Galerie statt. Nun waren es bereits 60 Ausreiser und die UB-Galerie war völlig überfüllt. Die Mitarbeiter der Umwelt-Bibliothek zogen die Reißleine. Die Vertreter der Staatsbürgerschaftsgruppe wurden aufgefordert ihre Treffen in anderen Gemeinden abzuhalten. Das kam einem Rauswurf gleich.

Letztendlich ging das Kalkül der Staatsbürgerschaftsgruppe auf. Am 9. Dezember erhielt das erste Mitglied der Staatsbürgerschaftsgruppe kurzfristig die Ausreisegenehmigung und die Aufforderung, die DDR innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Ihm sollten weitere nachfolgen. Und im Januar 1988 ging, mit der so genannten Luxemburg-Affäre, die Saat der Staatsbürgerschaftsgruppe vollends auf.

Im Januar 1988 kam es, aus Sicht der DDR-Opposition, zu jener Katastrophe, dessen Ursprung schon aus zuvor beschrieben Entwicklungen um die Staatsbürgerschaftsgruppe resultierte. Und zwar derart, dass es die Oppositionsgruppen, gerade als moralischer Sieger aus der Zions-Affäre hervorgegangen, vorübergehend in Schockstarre versetzte.

Vom Ehepaar Templin, beide Mitglieder der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, angestachelt und mit der Lüge, die Oppositionsgruppen würden sich mit Transparenten beteiligen, ermuntert, organisierte die Staatsbürgerschaftsgruppe eine spektakuläre Teilnahme an der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration. Templins Versuch, die Oppositionsgruppen, mit Hilfe von Tricksereien und Lügen zu einer Teilnahme zu bewegen, wurde von diesen abgelehnt. Sie empfahlen ihren Mitgliedern, sich nicht zu beteiligen. Trotzdem machten sich sechs Personen, drei davon waren Mitarbeiter der Umwelt-Bibliothek, am 17. Januar 1988 auf den Weg zur LL-Demonstration. Es kam, wie es kommen musste. Alle Oppositionellen, unter ihnen zwei UB-Mitarbeiter, die auch schon während der Zions-Affäre in Haft waren, und ein großer Teil der Ausreiser wurden festgenommen. Was für die Ausreiser ein Erfolg war, konnten sie doch mit einer baldigen Ausreise in die BRD rechnen, führte für die oppositionellen Gruppen zu einer Katastrophe. Diese verschärfte sich noch, als am 25. Januar weitere Oppositionelle, unter ihnen beide Templins, Bärbel Bohley, Werner Fischer und Vera Wollenberger verhaftet wurden.

Nach dem Bekanntwerden der Verhaftungen handelten die Oppositionsgruppen unverzüglich nach ähnlich bewährtem Muster wie bei der Zions-Affäre. Eine Koordinationsgruppe wurde gebildet. Gottesdienste und Fürbitte-Andachten organisiert, diesmal jedoch in täglich wechselnden Berliner Kirchen. Alle Zeitungsredaktionen der Opposition veröffentlichten fast täglich neue Flugschriften. Die Druckerpressen liefen rund um die Uhr. Eine Wanderausstellung informierte die Besucher der Führbitt-Gottesdienste ausführlich über die Inhaftierten. Es gab intensive Öffentlichkeits- und Pressearbeit über die Kontakte im Westen. Allerdings geschah dies, ausschließlich und einhellig nur für die beiden Gruppen der Oppositionellen. Die Koordinierungsgruppe versuchte einen möglichen Einfluss der Ausreiser zu verhindern, indem sie die Teilnahme über ein Delegiertensystem (pro Gruppe zwei Personen) begrenzte.

In über 40 Städten kam es zu Solidaritätsaktionen. Mitten in diesen Flächenbrand kam der überraschende Verrat an der Opposition durch die Inhaftierten. Außer Herbert Mißlitz, sowie Till Böttcher und Andreas Kalk, beide Mitarbeiter der UB, zogen es die Inhaftierten vor, in den Westen abzudampfen. Sie knickten ein und verließen den Knast in Richtung BRD bzw. England. Zunächst Freya Klier, Ralf Hirsch, Stephan Krawczyk, Bert Schlegel, und dann mit einem Auslandsvisum Wolfgang und Lotte Templin, Bärbel Bohley und Werner Fischer. Zuletzt Vera Wollenberger (Lengsfeld).

Ungeachtet der dann folgenden Rechtfertigungen, wie psychischem Druck durch die Vernehmer oder der systematischen Desinformation durch die Anwälte, empfand ich und viele andere Aktivisten, die draußen den Widerstand und die Solidaritätsaktionen für die Inhaftierten organisierten und auf deren Standhaftigkeit setzten („Bleibe im Land und wehre dich täglich!“ war die Parole der Stunde), den Abgang in den Westen als feigen Verrat. Es war mir damals nicht verständlich, wie Leute, die man durchaus als politische Vorreiter und wichtige Mitorganisatoren des Widerstandes der DDR-Basisbewegung einstufen konnte, so wenig Widerstandskraft besaßen und so schnell einknicken konnten. Reinhard Schult[13], langjähriger Aktivist und selbst DDR-Knast-erfahren, schrieb im April 1988 sehr zutreffend:

„Ist die Friedensbewegung ein Spiel, bei dem nach Belieben ein- und ausgestiegen wird, ein Trittbrett für die persönliche Karriere? Ist Solidarität nur eine Einbahnstraße? Und wo bleibt die Verantwortung für die hier Kämpfenden? Wie erklären wir den schnellen Abgang den 250 Osteuropäern (Russen, Ungarn, Polen, Jugoslawen, Tschechoslowaken), die zusammen mehr als 1.000 Jahre Knast abgesessen haben und sich in einer gemeinsamen Erklärung solidarisch erwiesen? Die lakonische Bemerkung eines chilenischen Freundes war: „Es waren schwache Revolutionäre." Die Inhaftierten gingen als politische Personen in den Knast, verlassen haben sie ihn als Privatpersonen. Eine Metamorphose in maximal 14 Tagen.“[14]

Ich kann mich entsinnen, wie sich allerorten Entsetzen, Enttäuschung und lähmende Schockstarre breit machte. Von dieser Schockstarre erholten sich die Gruppen über Monate nicht. Hinzu kam, dass der politische Sieg, den die DDR-Basisbewegung in der Zions-Affäre errungen hatte, nun verpufft war und sich in eine bittere Niederlage umkehrte. Der Abgang der Inhaftierten in den Westen war für die Protestaktionen in der DDR ein herber Rückschlag. Das Überkochen des Topfes wurde unerwartet von den „eigenen“ Leuten verhindert „Der Flächenbrand der brennenden Herzen und betenden Hände, der ca. 40 Städte erfasst hatte, verlosch. Nicht ausgetreten durch die allmächtige Staatsgewalt, sondern durch die vermeintlich eigenen Leute. Und dann die Auftritte in Westfernsehen, -radio und -presse, Stephans Konzert in Hannover. Jedes Wort eine Ohrfeige. Er habe schon immer gewusst, dass er eines Tages im Westen ankommen werde. Deshalb habe er auch kleine, leichttransportierbare Instrumente gelernt. Es täte ihm leid, dass er seine DDR-Vergangenheit nicht so schnell ablegen könne...“[15].

Am 5. Februar stellte die Koordinationsgruppe die Andachten ein. Ein immer größer werdender Ansturm von Ausreisern überlagerte die Zielsetzung und Inhalte der anderen Oppositionsgruppen. Schon am 2. Februar hatten etwa 100 Ausreiser den Altar der Friedrichsfelder Kirche besetzt. Sie riefen nach der Presse und kündigten eine Demonstration vor dem Büro des Ausreise-Anwalts Vogel an.

In Folge der Luxemburg-Affäre Januar 1988 distanziert sich ein großer Teil der Oppositionsgruppen von der Ausreisegruppe. Die Umwelt-Bibliothek Berlin geht ebenfalls auf Abgrenzungskurs zu den Ausreisern. Sie schließt ihre Räume für zwei Wochen und sagt alle Veranstaltungen ab. In den Umweltblättern vom 12. Februar 1988 beklagen sich die Mitarbeiter der UB über die „Solidarisationsunfähigkeit und Egozentrik“ der Ausreiser, die „zur Versorgungsmentalität erzogen“ lediglich „den Traum vom Schlaraffenland Bundesrepublik zu träumen, von Smarties, Onko-Kaffee, Wienerwald-Hähnchen und einer feenhaften Freiheit“. Für die Mitarbeiter der UB gibt es hingegen keine wirklichen Gründe die DDR zu verlassen. Sie plädieren unmissverständlich für den Verbleib in der DDR, um diese in ein besseres Land umzugestalten. „Staatssicherheitsdienst hin, Obst- und Gemüseversorgung her - , es muss doch einmal gesagt werden, dass die DDR zwar nicht die vollkommenste aller Welten ist, aber hinsichtlich des wirtschaftlichen Wohlstandes der Bevölkerung mit Italien und Großbritannien zu vergleichen ist, und die Mitbestimmungs- und Menschenrechte zwar nicht garantiert sind, aber bei weitem nicht so brutal mit den Füßen getreten werden wie in den bekannten Hinterhof-Diktaturen der USA. Die DDR ist nach Weltmaßstäben kein so unerträgliches Land, dass eine derartige Massenflucht verständlich wäre. Es gäbe genügend Gründe zu bleiben, um ein erträgliches Land in ein besseres umzugestalten.“ Solidarität mit Ausreisewilligen, so wird festgestellt, will die Umwelt-Bibliothek Berlin nur noch in Einzelfällen leisten: „Für diese Karikatur einer Bewegung rühren wir keinen Finger mehr.“

 

Die Umwelt-Bibliothek Berlin ist Logistiker der Opposition

Spätestens ab dem Herbst 1989 wird die UB zu einem wichtigen Logistiker für die Opposition. Anti-IWF, Ossietzky-Affäre, Kampagne gegen die Wahlfälschung, Gründung der Initiative für eine Vereinigte Linke. Die UB bietet stets Raum zum Treffen und Organisieren.

Während der Anti-IWF-Woche im Herbst 1988[16] wird in der UB „Die Schuldenkrise“ gesetzt, gedruckt, gebunden und versandfertig gemacht. „Die Schuldenkrise“, ein von vielen Autoren erstelltes Werk, erklärte den Zusammenhang zwischen Hunger und Armut in der Welt und den Profitinteressen, sowie der Schuld des internationalen Kapitals, des IWF und der Weltbank. Gleichzeitig beschrieb der Text die Mitschuld des sogenannten Sozialistischen Blocks und erleuchtete Alternativen und Entschuldungs-Modelle. Für unsere damaligen sehr bescheidenen Möglichkeiten ein technisch und logistischer sehr ambitionierter Kraftakt. Ich erinnere mich persönlich nur zu gut an tagelanges Sortieren, Legen und Heften. Am 20. April 1989 gründe ich mit anderen Mitstreitern der KvU, sowie mit neu hinzu gekommenen Leuten die erste relevante (Ost-)Berliner Antifa-Gruppe. Im Juli 1989 erscheint unsere erste Ausgabe einer Antifa-Info-Zeitschrift. Im Oktober 1989 folgt die zweite Ausgabe. An der technischen Umsetzung ist die UB-Druckerei maßgeblich beteiligt. Da der Zeitplan des UB-Computers eng ist, müssen Satz und Erstellung der Druckmatrizen in schlafloser Nachtarbeit im UB-Keller erfolgen. Die Drucker der UB schulen uns in der Handhabung der Druckmaschine und betreuten uns beim Druck der ersten Ausgabe. Mit dem Beginn des politischen Umbruchs im Herbst 1989 entsteht die Initiative für eine Vereinigte Linke. Ursprünglich von anarchistisch geprägten Gruppen wie der Umwelt-Bibliothek, der Offenen Arbeit und der Kirche von Unten initiiert, gerät das erste Treffen in der KvU zu einem zerfahrenen Chaos. Während die Initiatoren eher auf einen informellen Austausch setzten, erhofften sich die marxistisch orientierten Oppositionellen und einige interessierte SED-Genossen die Geburtsstunde einer linken Alternative zur SED. Danach übernehmen die marxistisch orientierten Oppositionellen das Ruder. Die weiteren, strukturellen Gründungsversammlungen finden nun in der UB-Galerie statt. Die anarchistischen Mitglieder der KvU bleiben fortan bei vorsichtiger Distanz. In dieser Phase wird die UB-Druckerei zum Erstellen erster Erklärungen und Aufrufe genutzt.

Überhaupt kann sich die UB-Druckerei ab dem Spätsommer des Jahres 1989 nicht mehr vor Arbeit retten. Bis in den Oktober 1989 ist sie quasi die einzige unabhängige Druckerei der DDR. Neben "Umweltblätter" und später dem "telegraph" werden fast alle Aufrufe und Flugblätter aus allen Teilen der DDR in der UB-Druckerei gedruckt.

 

Die Wende bringt das Ende

Im Oktober 1989 ist es so weit. Die Protestaktionen um den offensichtlichen Wahlbetrug, die Fluchtwelle im Sommer, die Trommelaktionen gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in China, und die unaufhaltsam ansteigenden Teilnehmerzahlen der Montagsdemos in großen Städten wie Leipzig und Berlin läutet das Ende der DDR und des poststalinistischen Ostblocks ein. Während in China die Demokratiebewegung blutig niedergeschlagen wird, haben die Machthaber in Ost-Europa zu viel Angst vor der eigenen Courage. Am 7. und 8. Oktober kommt es in Dresden und Berlin zu gewalttätigen Übergriffen der Polizei. Sonst bleiben die Ereignisse gewaltfrei. Tägliche Demonstrationen, Mahnwachen, „Wir sind das Volk!“, dann die Maueröffnung. Später und durch die massive Einflussnahme von bundesdeutscher Politik, bundesdeutschem Geld und bundesdeutscher Medienmanipulation heißt es plötzlich „Wir sind ein Volk“ und „Allianz für Deutschland – keine sozialistischen Experimente“. Manipulative Aussprüche, wie den vom damaligen BRD-Kanzler Helmut Kohl „Keinem wird es schlechter gehen – vielen wird es besser gehen“, ebnen den Weg. Dann der 18. März 1990: Volkskammerwahl. Die Menschen der DDR haben die Wahl zwischen selbstorganisierter Freiheit und der vermeintlichen Freiheit des Geldes. Erdrutschsieg des Geldes. Sieben Monate später gibt es die DDR nicht mehr. Hinlänglich bekannt.

Trotz allem oder erst recht beteiligt sich die Umwelt-Bibliothek aktiv am politischen Umbruch. Zusammen mit der Kirche von Unten initiiert sie eine Mahnwache in der Berliner Gethsemanekirche. Schnell wird der Kreis der Aktivisten größer. Viele Menschen, die sich einbringen, sind nicht in der DDR-Opposition organisiert.

In diesen Stunden erkennt man in der Redaktion der „Umweltblätter“, dass die bisherigen Oppositionszeitschriften unzureichend geeignet sind, um schnell und aktuell auf die Ereignisse eingehen zu können. Gemeinsam mit Redakteuren anderer Zeitschriftenprojekte werden die "Umweltblätter" zum "telegraph" umgewandelt. Wurden Oppositionszeitschriften wie die „Umweltblätter“ bisher ein- bis zweimal im Quartal herausgegeben, so erschein der "telegraph" nun alle zwei bis drei Tage. Mein Freund und Kollege Dirk Teschner und ich, bis dahin für den „Friedrichsfelder Feuermelder“ und dem „Antifa Info Ostberlin“ aktiv, wurden von Wolfgang Rüddenklau eingeladen, am Projekt „telegraph“ mitzuarbeiten. Wir sagten sofort zu und stürzten uns begeistert in die kräfteaufreibende Arbeit. Der UB-Keller wurde für mich zum neuen Zuhause. Wir machten alles allein: Informationen sammeln, Texte schreiben, Layout, Satz, Druck, Verkauf. Zwischendurch schnell nach Hause, Körperpflege, Umziehen und schon wieder los. Schlaf? Mangelware. Der Tag hatte 25 Stunden, für meine normale Arbeit bei der Stadtreinigung war keine Zeit mehr. Ich musste mich entscheiden: Job oder Politik und entschied mich für die Politik. Ich ließ den Job sausen, ging einfach nicht mehr hin.

 

4. November 1989 – Der Rot-Schwarze-Block

In der Antifagruppe der KvU wurde diskutiert, ob wir einem Demo-Aufruf von Schauspielern und Künstlern folgen wollten und wenn ja, wie. Klar war dann auch, dass wir uns von der normalen Masse abheben wollten, und das es ein gemeinsamer Antifa-Block werden soll. Also wurde roter Fahnenstoff besorgt (rot = links) und mit einer Aufschrift bemalt. Dann am 4. November, vormittags,,Treffpunkt Moll /Ecke Karl-Liebknecht Straße. Wir dachten schon, dass viele zur Demo kommen würden, aber so viele? Im Nachhinein heißt es, 500.000 wären es gewesen. Einige Medien behaupten sogar 1 Million. Wir waren am Anfang vielleicht 200 Leute und gingen glatt in den Menschenmassen unter. Allein durch unser Transparent stachen wir hervor. Leute vom besetzten Haus der Schönhauser Allee wollten lieber einen eigenen Anarcho-Block organisieren. Ihr Transparent war schwarz, mit der Aufschrift „Keine Macht für Niemand!“. Sehr schnell fanden beide Blöcke zu einem gemeinsamen Rot-Schwarzen-Block. Quer über die breite Liebknechtstraße, eine riesige Schwarz-Rote Fahne voran.

Berlin, 4. November 1989Rot-Schwarzer-Block auf der größten Demonstration in der DDR

Schnell wurden wir immer mehr. Antifa, KvU, UB, Punks, Langhaarige, Gruftis, junge Menschen aller Couleur. Ein Block von 2000 unter 500.000 Vereinzelten. Jung, links, anarchistisch, revolutionär und frei. Und wir wurden von anderen Demonstranten misstrauisch beäugt und beschimpft: Linkes Pack, Chaoten, geht nach Kreuzberg usw. Die Ordner mit ihren grün/gelben Schärpen redeten auf uns ein, dass wir nicht so „provozieren sollen“. Am „Palast der Republik“ wollen wir uns nicht in der Stauschlange einreihen, sondern umgehen die Demo kurzerhand. Schon glauben Volkspolizei und Schärpen-Ordner, wir wollen zum Brandenburger Tor durchbrechen. Die Polizei baut eine vermeintliche Sperrkette auf, die Ordner schreien hysterisch herum: „Hört auf! Keine Gewalt!“ Der Rot-Schwarze-Block zieht in einem Bogen an der Demo vorbei über den Marx-Engels-Platz. Die Panik-Ordner kriegen sich wieder ein. Dann am Alex. 500.000 lauschen den Rednern. Wir stehen vor dem „Haus des Lehrers“. Keine Ahnung, worum es bei den Reden geht. Mal wird geklatscht, dann wieder gebuht. 500.000 lauschen und vor dem „Haus des Lehrers“ knattern an fünf Fahnenmasten fünf DDR-Fahnen im Wind. Die Redner reden, die Masse lauscht andächtig, die DDR-Fahnen knattern. Wir schreiten zur Tat. Fünf DDR-Fahnen runter und zwei Rot/Schwarze-Fahnen rauf! 2000 junge Menschen jubeln. 500.000 lauschen den Rednern. Dann war für uns der 4. November Geschichte.

Berlin, 4. November 1989 Berlin, 4. November 1989

5 Tage später: Mauer auf

Als die Mauer auf ging, saß ich im Druck/Redaktions-Raum des UB-Kellers, Zionsgemeinde, Gribenowstraße. Wir hatten „telegraph“-Redaktion. Mit mir Dirk Teschner, Wolfgang Rüddenklau und ich glaube Frank Ebert, der zusammen mit Fritz die UB-Druckmaschine betrieb. Zu dieser Zeit waren Redaktionssitzungen mit sehr viel Stress verbunden, denn wir erschienen, immer noch mit Wachsmatrizendruck, alle paar Tage in einer 2000er Auflage. Also permanente Endredaktion. Kurze Zeit später kam noch Till hinzu. Frank hatte ein kleines Kofferradio an. Pressekonferenz mit Günter Schabowski und dann, es war gerade kurz vor 19 Uhr, geschah es: „„Erst kurz vor 19 Uhr fragte der italienische Journalist und ANSA-Korrespondent Riccardo Ehrman, möglicherweise auf Grund eines Tipps von Günter Pötschke, damals Chef der ADN und Mitglied des ZK der SED, in etwas gebrochenem Deutsch: „Ich heiße Riccardo Ehrman, ich vertrete die italienische Nachrichtenagentur ANSA. Herr Schabowski, Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war eine große Fehler, diese Reisegesetzentwurf, dass Sie haben vorgestellt vor wenigen Tagen?“. Schabowski drückte zunächst sein Erstaunen aus, die neue Regelung sei nach seiner Kenntnis doch schon veröffentlicht worden - was nicht stimmte. Dann suchte er aus den mitgebrachten Unterlagen den Text des Regelungsentwurfs heraus und las daraus vor:

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch die Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. […] Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu West-Berlin erfolgen.“[17]

Till schreit auf. „Habt ihr das gehört“. Wir wissen nicht, was er meint. „Die Grenze ist offen“. Es bricht Tumult aus. Till, Frank und Dirk springen auf. Frank rennt raus, Till ruft: Ich muss sofort rüber“, greift sich die Handkasse des "telegraph" und fischt ein paar Westmark raus. „Ihr kriegt das wieder“. Frank kommt wieder rein: „Keiner weiter da?“. Und schon sind Till und Frank verschwunden. Till Böttcher schuldet, soweit ich weiß, dem „telegraph“ bis heute 5 D-Mark. Na ja, egal. Spende. Ehe ich es verstehen kann, ist auch Dirk weg. Wolfgang und ich sitzen allein im UB Keller und wissen nicht, was wir machen sollen. Die Redaktion ist gelaufen. Eine ganz neue Zeit ist angebrochen: für die UB, den „telegraph“, das Universum und überhaupt. Für Wolfgang und mich erst einmal nicht. Wir gehen nach Hause und verabreden uns zum nächsten Tag 18 Uhr: Redaktionssitzung.

Berlin, 19.12.1989Berlin, 19.12.1989. Eine u.a. von der "UB" organisierte Demonstration gegen den Besuch von Bundeskanzler Kohl in der DDR

Die UB nach der Wende – 7 Jahre im Zeitraffer[18]

Der Versuch ein Haus zu besetzen

Mit dem Sturz der SED-Herrschaft und der neu gewonnen Freiheit boten sich auch für die UB völlig neue Voraussetzungen. Der „Schutz" der Kirche war nun plötzlich nicht mehr nötig. Im Kreis der UB-Aktivisten wurde das Bedürfnis immer deutlicher, die dunklen kalten Räume der Zionsgemeinde zu verlassen und sich den Gängeleien der Kirche zu entziehen. Doch woher neue Räume nehmen? Da von den alten neuen Staatslenkern nichts zu erwarten war und auch die neu entstandenen Bürgerbewegungen nur wenig Interesse hegten, die schon früher ungeliebte UB (zu chaotisch, zu links etc.) zu unterstützen, reifte der Plan, Räume zu besetzen. Nach kurzer Suche war das Haus Schönhauser Allee 5 als geeignetes Objekt der Begierde auserkoren.

Vertreter der „UB", der „Grünen Liga", einer Lesben-Gruppe, des „Revolutionären Autonomen Jugendverbandes" und der „Autonomen Antifa", bis dahin noch Teil der Kirche von Unten, trafen sich und beschlossen, das Haus am 13.01.1990 zu besetzen. In dem sehr großen, mit Seitenflügeln und Quergebäuden versehenen Haus Schönhauser Allee Nr. 5 sollte, so waren die Überlegungen, ein politisches Zentrum für Ostberlin geschaffen werden, ähnlich dem Mehringhof in Kreuzberg. Das sollte in einer Zeit, wo die alten Behörden der DDR nicht einmal mehr passiven Widerstand leisteten, nicht schwer fallen. Alles war vorbereitet, Transparente gemalt, sogar eine Videokamera wurde aufgetrieben. Doch es kam anders. Der damalige Sänger und Chef der Rockband Feeling B, Aljoscha Rompe, erfuhr durch eine Indiskretion eines UB-Mitglieds von diesem Vorhaben. Daraufhin ging Aljoscha, clever wie er war, zur damaligen Kommunalen Wohnungsverwaltung Prenzlauer Berg und erklärte, er hätte das Haus Schönhauser Allee 5 besetzt und erwirkte, wie auch immer, ein vorübergehendes Nutzungsrecht für sich und weitere vier Personen. Als sich nun am 13. Januar etwa 50 Menschen vor dem Haus Schönhauser 5 einfanden, war das Erstaunen groß, als Herr Aljoscha Feeling B mit seinem Schriftstück wedelnd vor dem Eingang stand und erklärte, er werde die Polizei holen, wenn die Leute versuchen würden, an ihm vorbei die Räume der Schönhauser 5 neu zu besetzen.

Was also tun? Während ein Teil der Meinung war, das Haus trotzdem zu besetzen und Aljoscha und Co. schlicht an die Luft zu setzen, war die Mehrheit dafür, ein anderes Haus zu suchen. Also zog man los, auf der Suche nach einem anderen Haus. Nach mehreren Stunden Umherirren, erreichte die stark zusammengeschmolzene Gruppe das Haus Lottumstr. 10a. Von der Lauferei ermüdet und frustriert, entschloss man sich kurzerhand, dieses viel zu kleine und für das geplante Vorhaben eines Zentrums völlig ungeeignete Haus zu besetzen.

13.Januar 1990, Besetzung der Lottumstraße 10a in BerlinBesetzung der Lottumstraße 10a. An der Leiter Wolfgang Rüddenklau.

Hier noch einmal ein spezieller Dank an Gerold Hildebrand. Er war der erste, der entschlossen in das Haus eindrang und die Zögerlichen auf der Straße agitierte, dass man sich jetzt dieses Haus nehmen solle. Dank dieser beherzten Aktion von Gerold Hildebrand, entstand eines der wichtigsten linksradikalen Projekte in Berlin, dass bis zum heutigen Tag Bestand hat.

Besetzung der Lottumstraße 10a in Berlin am 13.Januar 1990.

Bereits nach kurzer Zeit wurde klar, dass das Haus zu klein war. Nachdem sich sowohl die Grüne Liga als auch die Lesben-Gruppe aus dem Projekt zurückzogen, beschloss auch der UB- Kreis, keine Anstrengungen in dieses Haus zu stecken. Damit war die Frage des „Wohin" für die UB jedoch erneut offen.

 

Der Traum vom Medienzentrum in der Schliemannstraße

Etwa im April 1990 traten die Geschäftsführer des vom Neuen Forum neu gegründeten BasisDruck- Verlags an die UB heran und unterbreiteten ein verlockendes Angebot. Der Verlag stand kurz davor, Quergebäude und Seitenflügel des Hauses Schliemannstr. 23 sowie die Parterre-Etage der Nummer 22, die sie kurz zuvor besetzt hatten, durch reguläre Mietverträge von der KWV zu erhalten. Es war geplant, dort ein großes medienpolitisches Zentrum aufzuziehen. Der damalige Geschäftsführer Bernd Holtfreter bot der UB an, in die Parterre-Etage 22 einzuziehen. Finanzielle Unterstützung wurde zugesagt. Unsere Zeitschrift sollte Teil des Verlags werden und durch die Regie und mit den Mitteln des Verlages mit einer Startauflage von 8.000 Exemplaren in den Postzeitungsvertrieb gebracht werden. Holtfreter stellte sogar eine Auflagensteigerung bis 12.000 Exemplare in Aussicht. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen.

Im Mai 1990 packten die UB-Mitarbeiter ihre Sachen und zogen in die Schliemannstraße 22 um. Doch von der versprochenen, großzügigen Unterstützung blieb nicht viel. Während die UB von Anfang an auf eigenen Füßen stehen musste und dazu nur durch ABM und ähnliche Finanzierungen in der Lage gewesen war, wurde unsere Zeitschrift immerhin eineinhalb Jahre durch den BasisDruck-Verlag getragen. Allerdings blieben die von Holtfreter versprochene Auflagensteigerung, Werbung und auch die Einführung in den Postzeitungsvertrieb nur leere Versprechungen. Alle Anstrengungen wurden stattdessen in die Wochen- Zeitung des Neuen Forums „Die Andere" gesteckt. Und nach der Pleite dieses Blattes Ende 1991 erklärte der BasisDruckVerlag auch uns das Ende der Freundschaft. Der „telegraph" musste seine Redaktionsräume in der Nr. 23 verlassen und zog in die UB-Räume um. Von diesem Zeitpunkt an waren UB und "telegraph" ganz auf sich gestellt. Im Laufe der Jahre gelang es uns, die UB durch weitere Finanzierungsmodelle, wie z.B. über sogenannte Lohnkostenzuschüsse, über Wasser zu halten.

 

Auch nach der Wende: Die Umwelt-Bibliothek bleibt Opposition

Nach der Wende und spätestens ab der Eingliederung der DDR in die BRD bestand für einige wenige Mitarbeiter der UB keine Notwendigkeit, weiter zu machen. Für sie war die Bundesrepublik Deutschland das erhoffte Schlaraffenland. Für viele andere galt das nicht. Zu groß waren und sind die Ungerechtigkeiten und Missstände im System der neuen Herren, um tatenlos davor die Augen zu verschließen. Verstärkt durch neue Mitarbeiter ging die Arbeit in der UB unbeirrt und nahtlos weiter.

Inhaltlich versuchte die UB neben dem kontinuierlich erscheinenden „telegraph" ihre Basisarbeit fortzuführen, wenngleich unter ganz neuen Bedingungen. 1990 begann Sie dann auch mit Aktionen, die schon vor der „Wende" aktuell waren: eine Schornsteinbesetzung des Heizkraftwerkes in Lichtenberg, Aktionen gegen die Sonderdeponie in Ketzin und für Wehrdienstverweigerung, aktuell damals durch die Flucht des Westberliners Gerhard Scherers nach Ostberlin. Dazu kamen Aktionen gegen die Situation in Albanien, ein Seminar zu unabhängigen Gewerkschaftsinitiativen und Versuche, die faschistische NA-Zentrale in der Weitlingstraße (Berlin/Ost) zu verhindern.

Berlin-Lichtenberg 1990 - Demonstration Gegen die Zentrale der "Nationalen Alternative"Berlin-Lichtenberg 1990 - Demonstration gegen die Zentrale der "Nationalen Alternative"

Mit der Unterstützung der Stasi-Zentrale-Besetzung in der Normannenstraße (Berlin-Lichtenberg) und damit verbundenen Initiativen, wie der Kampagne gegen die Weitergabe von Stasiakten des ehemaligen „Wendeministers" Diestel an die BRD-Geheimdienste, wurde ein neuer Schwerpunkt in der Arbeit der UB gelegt.

Im Jahr 1991 folgten als Schwerpunkte, mit dem Zweiten Golf-Krieg ein Kriegs-Steuer-Boykott, die Auseinandersetzungen mit dem Rassismus in Deutschland und Aktionen gegen Mieterhöhungen. 1992 erfolgte dann die Eröffnung des Matthias-Domaschk- Archivs in der UB und das Erscheinen des Buches „Störenfried", bis heute das wichtigste Buch über die DDR-Oppositionsgruppen.

Das verstärkte Anwachsen des faschistischen Terrors in Deutschland traf die Mitarbeiter der UB ganz persönlich durch den Mord an Silvio Meier und die Aufnahme der UB als Anschlagsziel der Anti-Antifa in ihrer Broschüre „Einblick". Im Jahr 1993 wurde versucht, mit anderen Ostgruppen eine Vernetzung in Hinblick auf die Gründung eines Presseagentur-Nachrichten-Netzes für Ostdeutschland in die Wege zu leiten. Leider erfolglos, der „telegraph" blieb weiterhin als landesweite Publikation übrig. Bemerkenswert war in diesem Jahr auch die Besetzung von mehreren NVA-Kriegsschiffen in Peenemünde, die für den Export an die Diktatur in Indonesien von der Bonner Regierung vorgesehen waren.

Entgegen den früheren Verschrottungszusagen verscherbelte die Bundesregierung 39 DDR-Kriegsschiffe an die indonesische Militärdiktatur von General Suharto, sieben weitere wurden bereits Mitte 1992 an Algerien verkauft. Oben drauf gab es drei nagelneue U-209-Boote und die Ausbildung von indonesischen Militärs an Bundeswehrausbildungsstätten. Alles in allem verdiente die Kohl-Regierung damals 1,1 Milliarden US-Dollar. Kohl persönlich übergab die Schiffe am 23. Januar an die Diktatur. Wir erinnern uns. Das Suharto-Regime verübte Völkermord auf West-Papua und auf Ost-Timor 300.000 bzw. 250.000 Menschen wurden ermordet. Der Rest wurde in Lager verfrachtet.

Die in Peenemünde liegenden Schiffe sollten u.a. durch die Wolgaster Werft umgerüstet werden. Gerüchten zu Folge sollten die Schiffe zusätzlich mit amerikanischen Waffen ausgerüstet werden. Im April 1993 bildete sich in Dresden ein Bündnis aus fast allen Landesteilen Ostdeutschlands und fast allen politischen Spektren der Linken. Von Autonomen, über Graswurzlern, bis hin zum Neuen Forum, unter Ihnen auch die Umwelt-Bibliothek Berlin, die sich in der Folge intensiv an Vorbereitung und Durchführung der Besetzungsaktion beteiligte. Wer sich nicht beteiligte, waren, trotz mehrmaliger Aufforderung die PDS, Bündnis 90 und all die Abgeordneten, die sich anmaßen, die sogenannte Bürgerbewegung in den Parlamenten zu vertreten.

1993 - UB-Aktion gegen Kriegsschiffe in Peenemünde1993 - UB-Aktion gegen Kriegsschiffe in Peenemünde

Unter Begleitung von Journalisten und Fernsehkameras besetzten Pfingsten 1993 etwa 100 Demonstranten das Hafengelände und die Schiffe. Bis Pfingstmontag blieben Hafen und Schiffe besetzt. Die Polizei hielt sich über das Wochenende erstaunlich zurück. Erst am Pfingstmontagabend wurden die Schiffe schließlich gestürmt, doch da war es schon zu spät. Der Schaden wurde von Experten auf 1,3 Millionen DM beziffert. Die Rüstungsgegner aller Spektren betrachten die Schiffe von Rechts wegen als Schrott und freuen sich über erste Verschrottungserfolge. Nur diejenigen, die die Flotte an fernöstliche Diktaturen verkaufen wollen, jammerten über den angerichteten Schaden. Insgesamt war die Peenemünde-Aktion ein wichtiger Versuch, zu neuen Aktionsformen gegen den täglichen Wahnsinn der Bundesrepublik Deutschland zu finden.

1994 war mit geprägt durch den ersten Tschetschenien-Krieg und den kleinen Aktivitäten unsererseits dagegen. Am 1. November 1991 hatte sich die Sowjetrepublik Tschetschenien für unabhängig erklärt und unter Führung des ehemaligen sowjetischen Generals Dschochar Dudajew die Kaukasusrepublik Tschetschenien gegründet. Nach einer systematischen Destabilisierung Tschetscheniens durch Russland, befahl dessen Präsident und Hoffnungsträger des Westens Boris Jelzin, erklärter Freund von Helmut Kohl, am 11. Dezember 1994 den Angriff auf Tschetschenien. 40.000 Soldaten überzogen das Land mit Krieg und pressten es zurück in die Knechtschaft der Russischen Föderation. Schwere Bombenangriffe auf die Hauptstadt Grosny und 78 weitere Ortschaften führten zu deren völligen Zerstörung und forderten etwa 25.000 Todesopfer. Der Krieg endete formal im Jahre 1996 und kostete etwa 80.000 Menschen das Leben.

Am Ende des Jahres 1994 war es möglich geworden, nach fünf Jahren, endlich eine sogenannte Oppositionskonferenz ehemaliger DDR-Gruppen abzuhalten. Ein Teil der durch „Runde Tische", Parteigründungen, Parlamentsbeteiligungen und Stasivorwürfen gespaltenen Szene fand sich wieder zusammen, um über die „Wende" und Fehler in der Zeit der DDR-Opposition zu reflektieren..

1995 begann für die UB mit der Solidaritätsdemonstration für die tschetschenische Bevölkerung und gegen den Russischen Krieg, am 21. Januar in Berlin. Mit der Errichtung eines Sekten-Archives und einer wöchentlichen Beratung kam ein neues Thema ins Haus. Andere Themen des Jahres waren der NATO- Einsatz in Bosnien, die Ereignisse in Chiapas und das heimliche Treffen des Kanzlers Kohl mit Bärbel Bohley und fünf anderen so genannten Bürgerrechtlern, was im Jahr darauf in der Gründung eines sogenannten „Bürgerbüros" gipfelte. Hier kam es, auf Initiative der Umwelt-Bibliothek, zur „Erklärung der Sechsundsechzig“. 66 ehemalige DDR-Oppositionelle unterschrieben eine Erklärung, in der sie sich über das Verhalten der sechs Ex-Oppositionellen um Bärbel Bohley empörten und ihren PR-Trächtigen Kuschelkurs mit der Bundesregierung ablehnten:

„Das Treffen von sechs ehemaligen DDR-Oppositionellen mit dem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl, am 23. August hat uns nicht den Atem verschlagen. Wir, eine Reihe von Leuten, die auch das Regime in der DDR bekämpft haben, jedoch in der neuen Gesellschaft keine wirkliche Alternative zur DDR sehen können, fühlen uns wiederum auf freche Weise vereinnahmt. Hinzu kommt, dass niemand der in der Kohl-Runde Versammelten dem von den Medien vermittelten Eindruck widersprach, sie seien die einzigen Vertreter der Bürgerbewegung, die den Sturz des Regimes in der DDR herbeigeführt hat. (…)

Wir distanzieren uns von Leuten, die diesem Kanzler im Tausch gegen ein paar vage Versprechungen die Legitimation der DDR-Bürgerbewegung verschaffen wollen. Wir stehen für die politisch Entrechteten und sozial Schwachen, ob sie nun Verfolgte der DDR, der politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland oder der kapitalistischen Neuen Weltordnung sind.“[19]

 

1996 – Die Umwelt-Bibliothek wird 10

Am 01. September 1996 feierte die Umwelt-Bibliothek ihr zehnjähriges Bestehen. Zehn Jahre UB – ein beachtenswertes Ergebnis, immerhin. Die meisten Projekte aus dem Osten schafften das nicht. Diverse Zeitschriften berichteten im Vorfeld, und zum Gottesdienst erschienen ORB und ZDF. Allerdings hatte die Sache einen schalen Beigeschmack. Denn es wurde im Wesentlichen über die DDR-Zeit der UB berichtet, mit der Zions-Affäre von 1987 als Aufhänger. Dürftig war das Interesse an der Zeit nach der Wende. Und die handwerkliche Qualität vieler Berichte war im wahrsten Sinne „schweinisch". Neben der Predigt von Pfarrer Simon gibt es Redebeiträge von Mitgliedern und Mitbegründern der Umwelt-Bibliothek. Wolfgang Rüddenklau, der die zehn Jahre UB als Einziger von Anfang an mitgemacht hat, redet über die aktuelle Situation. Nachdem er noch einmal das Politikverständnis der UB erläuterte, machte er vergleichende Ausführungen über die staatliche Politik Mexikos, wo er im Sommer als Vertreter der UB am Interkontinentalen Kongress der EZLN teilnahm. So stellte er fest, dass sich zum Beispiel die Hochschulpolitik Mexikos bis auf den i-Punkt mit der der BRD vergleichen lässt. Zum Schluss ging er noch einmal, entschuldigend „...auf diese Art von Presseberichterstattung.." zum UB-Jubiläum ein: „...ich habe die Pressearbeit gemacht und kann somit ein bisschen dafür, aber der Hauptteil ist der wirklich mordsmäßige Zustand des deutschen Journalismus. Das geht wirklich rapide abwärts - sicherlich mit Ausnahmen. Eine davon und darüber habe ich mich sehr gefreut; die feindlich gesinnte „Frankfurter Allgemeine" war immerhin so klug zu sehen, dass die Demokratie, die wir vertreten, eine völlig andere, eine entgegengesetzte ist der westdeutschen Demokratie, einer Demokratie der mühseligen Kompromisse, wie er (der Journalist der FAZ; d.Red) sich ausdrückte. Das könnte man sicherlich anders sehen im Zeitalter des großen Lauschangriffs, der ständig beschworenen „Gefahren" von organisierter Kriminalität oder welche sonstigen Gefahren uns noch bedrohen mögen. Ich glaube, dass diese Demokratie der Bundesrepublik Deutschland die kämpferischen Demokraten, die die „Frankfurter Allgemeine" so belächelt, noch sehr nötig brauchen wird gegen, beispielsweise, den Bundesverband der Deutschen Industrie, gegen den Herrn Kirch, oder sei es auch bloß gegen Herrn General Schönbohm, der mittlerweile Berlin als seinen Exerzierplatz betrachtet..."

 

Das Ende kommt ...

Neben einigem Erfreulichen des Jahres 1996, wie das bereits beschriebene Jubiläum, oder der Beteiligung der Umwelt-Bibliothek Berlin am Kongress gegen Neoliberalismus, in Berlin und Chiapas (Mexiko), treffen uns in diesem Jahr die Kürzungen im Berliner Haushaltsplan besonders hart. Eigentlich bedeutet es, dass zwei weitere versprochene Jahre finanzieller Unterstützung wegfallen und wir wieder mal kurz vor dem Aus stehen.

Das Aus der UB kommt 1997, gnadenlos und schmerzhaft. Das Geld ist alle. Zunächst soll ein Umzug die Lösung sein, kleinere Räume, 10 Hausnummern weiter Richtung Helmholzplatz. Doch da ist es schon zu spät. Die UB kommt nicht mehr in die Gänge. Die Abwicklung zieht sich noch bis in das Jahr 1998. Dann gibt es auch den Verein nicht mehr. Ab Sommer 1998 ist die Berliner Umwelt-Bibliothek endgültig Geschichte.

 

… und der "telegraph"?

Den gibt es bekanntermaßen noch immer. Als letztes authentisches Blatt der linken DDR-Opposition und Nachfolger der zuletzt wichtigsten DDR-Oppositionszeitung „Umweltblätter“ arbeiten wir weiter. Gegen alle Widernisse und Anfeindungen, ungebrochen und unbestechlich.

Besonders in letzter Zeit, da sich die Gründung der Umwelt-Bibliothek Berlin zum 25.mal jährt, versuchen einige besonders fanatische Staatsdiener das heutige Bild von der Umwelt-Bibliothek in die bundesdeutsche Geschichtsschreibung einzupassen, den „telegraph“ zu diffamieren und uns sogar unseren Bezug zur DDR-Opposition abzusprechen, um sich die ganze DDR-Oppositionsgeschichte zur Beute zu machen. Doch der „telegraph“ ist heute genau so authentisch wie damals. Er wird geschrieben, gedruckt, gelesen und beachtet.

 

Was noch zu sagen wäre.

Die UB war stets ein Ort und ein Symbol für linke Ideen und linkes Handeln innerhalb der DDR-Opposition und in der bundesdeutschen Realität. Noch 21 Jahre nach der so genannten Wiedervereinigung und 13 Jahre nachdem die UB sich dem finanziellen Druck der kapitalistischen Logik beugen und schließen musste, steht die Umwelt-Bibliothek für die Idee einer herrschaftslosen und freien Gesellschaft.

 

[1] Wolfgang Rüddenklau, Störenfried – DDR-Opposition 1986 – 1989, BasisDruck Verlag/Edition ID-Archiv 1992, S. 68

[2] Wolfgang Rüddenklau, Störenfried – DDR-Opposition 1986 – 1989, BasisDruck Verlag/Edition ID-Archiv 1992, S. 100

[3] Wolfgang Rüddenklau, Störenfried – DDR-Opposition 1986 – 1989, BasisDruck Verlag/Edition ID-Archiv 1992, S. 69

[4] Wolfgang Rüddenklau, Störenfried – DDR-Opposition 1986 – 1989, BasisDruck Verlag/Edition ID-Archiv 1992, S. 99

[5] Nationale Volksarmee der DDR. Der sogenannte Grundwehrdienst dauerte 18 Monate. Zivildienst gab es nicht. Lediglich aus Gewissens- und Glaubensgründen war es möglich, einen zweijährigen Zwangsdienst ohne Waffe als Bausoldat abzuleisten. Verweigerer wurden bis 1985 (Tod von Armeegeneral Heinz Hoffmann, Minister für Nationale Verteidigung) ins Gefängnis gesteckt. Unter seinem Nachfolger Heinz Kessler wurden Verweigerer stillschweigend ignoriert.

[6] Die Kirche von Unten (KvU) wollte eine Basiskirche im Geist der Bergpredigt sein. Sie stand in Opposition zur verkrusteten Amtskirche und zum SED-Staat. Sie wollte undogmatisch, selbstverwaltet, anarchistisch sein.

[7] Umweltblätter vom 1. September 1987

[8] Wolfgang Wolf, von 1984 bis 1989 in der DDR-Opposition sehr aktiv und einflussreich, im Friedenskreis Pankow, Friedenskreis Friedrichsfelde und Gruppe Gegenstimmen. In der Wende Mitbegründer der Initiative für eine Vereinigte Linke. 1991 wurde er als IM Max enttarnt. Er war seit den 1960er Jahren für die Stasi aktiv.

[9] Poppe Oktober 1987: „Für unsere Gesellschaft sähen wir den Weg nicht in Richtung eines Parteienpluralismus und parlamentarischen Demokratie nach westlichem Muster, sondern notwendig wäre es, den Weg der Demokratisierung zu gehen mit den sich daraus ergebenden Möglichkeiten gesellschaftlicher Selbstverwaltung.“ QUELLE: Gerd Poppe, Dialog oder Abgrenzung? Grenzfall-Vorabdruck 11/1987, Reprint der Ausgaben 1986/87, herausgegeben von Ralf Hirsch und Lew Kopelew, Berlin 1989.

[10] Ebenda

[11] Wolfgang Rüddenklau, Störenfried – DDR-Opposition 1986 – 1989, BasisDruck Verlag/Edition ID-Archiv 1992, S. 124

[12] Ebenda

[13] Reinhard Schult war einer der wichtigsten und einflussreichsten Personen der Berliner Opposition. Friedenskreis Friedrichsfelde, Kirche von Unten, Gruppe Gegenstimmen, Mitbegründer des Neuen Forum, für das er später auch als Abgeordneter im Berliner Abgeordnetenhaus tätig war. Heute ist er Mitglied im Bundesvorstand des Neuen Forum.

[14] Reinhard Schult, Gewogen und für zu leicht befunden, Friedrichsfelder Extrablatt", April 1988

[15] Ebenda

[16] Im Herbst 1988 tagten in Westberlin der IWF und die Weltbank. Ein großer Teil der Banker und Delegierten wohnten in Luxushotels in Ostberlin und absolvierten dort auch Kulturprogramme. In beiden Teilen Berlins organisierte ein sehr breites Bündnis von Kirche bis Autonome Gruppen, sowie ein großer Teil der DDR-Oppositionsbewegung Kongresse und direkten Widerstand auf der Straße.

[17] http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Schabowski

[18] Für den „telegraph“ Nr. 9/1996, S. 15 ff., schrieb ich einen Text „Aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der Umwelt-Bibliothek“. Der Abschnitt „UB nach der Wende – 7 Jahre im Zeitraffer“ basiert in wesentlichen Teilen auf diesem Text.

[19] Aus „telegraph“ 9/1996, 15. Oktober 1996, Erklärung der Sechsundsechzig, S. 11/12

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