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Dokumente zur Umwelt-Bibliothek

 

DOKUMENT 1

Aus „Friedrichsfelder Extrablatt" April 1988 und telegraph 1/1997

Gewogen und für zu leicht befunden

Versuch einer Einschätzung der Januarereignisse Aufruf zur Diskussion

Sieben Wochen, nachdem die letzte der Inhaftierten den DDR-Knast in Richtung Westen verließ, ist es an der Zeit, die Sprachlosigkeit zu durchbrechen, Schäden zu benennen und Abgrenzungen deutlich zu machen. Sieben Wochen warten darauf, ob von den Ausgereisten ein öffentliches Wort der Entschuldigung, eine selbstkritische Bestandsaufnahme zu den von ihnen angerichteten Schäden auch nur ansatzweise zu hören ist - nichts dergleichen. Stattdessen diese widerlichen Selbstdarstellungen von Freya Klier und Stephan Krawczyk, diese Schuldabwälzung auf den Rechtsanwalt und die Kirchenleitung.

Die Friedens- und Alternativbewegung steht ratlos vor dem Scherbenhaufen, versucht, sich zu orientieren, übt sich in Organisationsspielereien wie in Cottbus, verdrängt die Situation: am liebsten nichts mehr davon hören, zur Tagesordnung übergehen. Doch Verdrängung wird uns nicht weiterhelfen. Wer mit seiner eigenen Geschichte und den eigenen Schwächen unehrlich umgeht, wird unglaubwürdig, wird nicht mehr gehört werden.

Die Aktion vom 17. Januar. Wie kam es dazu? Wenig beachtet von den Gruppen hatte sich die im Sommer 87 gegründete Gruppe „Staatsbürgerrechte", die sich zu 99 % aus Ausreisewilligen zusammensetzt, personell stark erweitert und DDR-weit organisiert. Der Versuch dieser Gruppe, sich bei der Kirche von Unten anzusiedeln, wurde von der KvU abgelehnt. Ebenso lehnte im Herbst 87 die Initiative Frieden und Menschenrechte es ab, sie aufzunehmen. Eine Untergruppe der Initiative, die sich mit dem Strafrecht befaßt, gestattete dann den Staatsbürgerrechtlern, sich als ihre Untergruppe zu bezeichnen und sich parallel zu ihren Zusammenkünften zu treffen - ein erster Fehler.

Die Staatsbürgerrechtler gaben vor, nicht durch Aktionen ihre Ausreise befördern zu wollen, sondern die soziale Isolation durchbrechen und sich untereinander solidarisch beistehen zu wollen. Anfang Januar zählte diese „Untergruppe" bereits ca. 200 Teilnehmer. (Die Strafrechtsgruppe war nie mehr als acht Mitglieder stark.) Auf der Versammlung am 9. Januar wurde von den Staatsbürgerrechtlern, die inzwischen Zulauf aus Rostock, Jena, Leipzig, Gera usw. bekommen hatten, die Teilnahme an der offiziellen Liebknecht/Luxemburg-Demo beschlossen. Wer die Idee dort hineingetragen hat, in welchem Interesse, ist nicht mehr feststellbar.

Das Ehepaar Wolfgang und Lotte Templin (Mitglieder der Initiative Frieden und Menschenrechte) unterstützte die Aktion und belog die Leute der Staatsbürgerrechtsgruppe, indem sie behaupteten, die anderen Gruppen würden sich beteiligen und Transparente tragen. Am 11. Januar rief Wolfgang bei Herbert Mißlitz an und behauptete, die Initiative und die Solidarische Kirche würde an besagter Demo mit eigenen Transparenten teilnehmen, und er möge dafür sorgen, daß in Friedrichsfelde - dort fand ein Abendgottesdienst mit Stephan und Freya statt - die geplante Aktion angesagt werde. In Friedrichsfelde war aber inzwischen bekannt, wer das Vorhaben initiiert hatte, und der Friedenskreis verweigerte die öffentliche Ankündigung. Am Tag danach wollte Wolfgang von Herbert wissen, warum in Friedrichsfelde nicht zu dieser Aktion aufgerufen wurde. Die Erklärung, daß Ausreisewillige als Initiatoren kaum unsere Anliegen im Blick haben dürften und wir nicht mit so provokanten Mitteln deren schnellere Ausreise befördern helfen wollen, auch nicht, wenn alles unter den großen Mantel der Menschenrechte paßt, stieß auf völliges Mißverständnis. Ob die Ausreiser die neuen Juden oder Neger für uns seien, war seine einzige Reaktion. In den nachfolgenden Tagen gab es mehrere weitere Auseinandersetzungen mit Wolfgang und Lotte. Die anderen Mitglieder der Initiative versuchten, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Ohne Erfolg. Nach den Festnahmen des 17. Januar kam es am Mittwoch, dem 20., im Atelier von Bärbel Bohley zu einem Treffen verschiedener Gruppen. Wolfgang verließ wutschnaubend das Atelier, nachdem ihm Vorwürfe wegen seines Verhaltens gemacht worden waren. Er war zu keiner kritischen Reflexion bereit. Wolfgang und Lotte schlugen ebenso Warnungen über eine mögliche Festnahme in den Wind, wie sie trotz mehrfacher Angebote keine Absprachen über den Verbleib ihrer Kinder trafen. So haben sie allein dafür die Verantwortung zu tragen, daß ihre Kinder für zwei Tage in ein Heim mußten. Der Friedens- und Umweltkreis der Umwelt-Bibliothek hatte ebenfalls beschlossen, als Gruppe nicht an der Demo teilzunehmen, stellte es aber den Mitgliedern frei, als einzelne mitzumarschieren. Einige, die mitgehen wollten, verschliefen zum Glück, andere leider nicht. Vier Freunde aus der ÜB wurden festgenommen, bei dreien der Haftbefehl ausgesprochen. Hier stellt sich die Frage, wie in einzelnen Gruppen, speziell in der ÜB, miteinander umgegangen wird, wie politische Entscheidungen diskutiert und gefällt werden, ob eventuelle Folgen bedacht werden, ob eine Verantwortung für die Gruppe, für die Friedensbewegung eine Rolle spielt. In der Gruppe „Gegenstimmen" wie auch in der Kirche von Unten ist die Teilnahme überhaupt nicht diskutiert worden. Es schien selbstverständlich, daß ein Mitgehen nicht in Frage kommt. Umso überraschter waren beide Gruppen, als ihre Mitglieder Vera Wollenberger und Herbert Mißlitz sich unter den Verhafteten befanden. Es hätte sich eben doch auseinandergesetzt werden müssen. Wir hatten den Ernst der Lage total unterschätzt. Später erfuhren wir, daß Freunde von Vera in zwei langen Abenddiskussionen versucht hatten, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

Herbert hatte nach eigenen Angaben nie die Absicht, an der Demo teilzunehmen. Er begleitete Vera zur Frankfurter Allee, trug den Beutel mit ihrem Transparent und versuchte, sie nochmals von ihrer Teilnahme abzubringen. Er wollte in seine Wohnung, die sich in der Nähe der Frankfurter Allee befindet. Herbert wurde nach fünf Tagen U-Haft entlassen, das Ermittlungsverfahren eingestellt. Freya und Stephan hatten schon im Sommer die Idee, die Liebknecht/ Luxemburg-Demo zu nutzen, um gegen Stephans Berufsverbot zu demonstrieren, das, so wie er sagte, auch mit dem Verlesen von Luxemburg-Texten im Zusammenhang stand. Als beide erfuhren, daß nun die Ausreisewilligen ebenfalls protestieren wollten, nahm Freya Abstand von der Aktion und versuchte, Stephan ebenfalls zu überzeugen, nicht zu gehen. Er war nicht zu halten. Was wäre geschehen, wenn niemand von den Genannten zur Demo gegangen wäre? Nichts. Denn weder vor dem 17. Januar noch danach haben die Gruppen sich veranlaßt gefühlt, aktiv zu werden, wenn Ausreisewillige Aktionen planten und dafür inhaftiert wurden. Niemand in den Gruppen hatte nach Zion anscheinend mit Verhaftungen und Hausdurchsuchungen gerechnet. So lag denn in allen durchsuchten Wohnungen reichlich Belastungs- und Informationsmaterial für die Sicherheitsorgane bereit. Freya hatte am 18.1. gegen Mittag begonnen, mögliches Belastungsmaterial aus Stephans Wohnung zu schaffen. Fein verpackt in zwei Koffern brachte sie die Sachen intelligenterweise in ihre eigene Wohnung. Eine halbe Stunde später klingelte es. Sieben Herren, eine Dame und der Staatsanwalt standen vor der Tür. Hausdurchsuchung. Freya erreichte durch Diskussion mit Staatsanwalt und Sicherheitsorganen, daß ihre Manuskripte, an denen sie gerade arbeitete, nicht beschlagnahmt wurden. Hinweise, dieses gerettete Material aus der Wohnung zu bringen, ignorierte sie. So wurde der Rest bei der zweiten Durchsuchung auch noch beschlagnahmt. Unter anderem waren es Briefe von Freunden, Adressbücher, Kalender, Interviews, die sie mit Schülern und Lehrern für ihr geplantes Buch gemacht hatte. Wieviele Menschen durch diese Verantwortungslosigkeit noch Schaden erleiden werden, dürften wir kaum erfahren. Auch heute in West-Berlin sind Freya und Stephan nicht bereit, über dieses Verhalten nachzudenken bzw. Leute zu informieren, die gefährdet sein könnten.

Der 25. Januar und danach

Die Freilassung von Herbert und die Einstellung seines Ermittlungsverfahrens am 22. Januar war für alle ein Hoffnungszeichen. Die zweite Verhaftungswelle am 25. Januar kam wie ein Schock. Dennoch, die Solidaritätsbewegung wuchs weiter an, in immer mehr Städten fanden Fürbittandachten statt. Zehntausende wachten auf, sogar die katholische Kirche meldete sich zu Wort. Es ging ans Eingemachte. Die Verurteilung als Agenten feindlicher Mächte in unserer Presse bewirkte nur das Gegenteil von der beabsichtigten Angstmache. Die Masche war einfach sattsam bekannt. Und dann kamen die Nackenschläge. Einer der Inhaftierten nach dem anderen ging, dahin, wohin in die Oberen haben wollten. Zuerst Freya, Ralf, Stephan, Bert, dann Wolfgang und Lotte. Bärbel und Werner halten durch, wurde sich in den Andachten zugeraunt. Doch auch sie, zuletzt Vera. Till und Andreas, hielten als einzige der Versuchung stand. Sie wurden am 6. Februar in die DDR entlassen.

Der Flächenbrand der brennenden Herzen und betenden Hände, der ca. 40 Städte erfasst hatte, verlosch. Nicht ausgetreten durch die allmächtige Staatsgewalt, sondern durch die vermeintlich eigenen Leute. Und dann die Auftritte in Westfernsehen, -radio und -presse, Stephans Konzert in Hannover. Jedes Wort eine Ohrfeige. Er habe schon immer gewusst, dass er eines Tages im Westen ankommen werde. Deshalb habe er auch kleine, leichttransportierbare Instrumente gelernt. Es täte ihm leid, daß er seine DDR-Vergangenheit nicht so schnell ablegen könne...

Nach zwei Tagen hat er einen Manager, trotzdem das Gejammer, man wolle in die DDR zurück, man sei nicht freiwillig gegangen. Bärbel, Werner und Templins verkaufen ihre Ausreise sogar als politischen Erfolg: „Wir hoffen, daß mit den, durch uns und durch die Staatsorgane der DDR, getroffenen Entscheidungen eine Perspektive eröffnet wurde, in der Zukunft politische Konflikte in der DDR durch politische Lösungen zu bearbeiten." Vera Wollenberger schwenkt siegesbewußt den DDR-Pass, verweist auf ihre beiden Kinder, die die Mutter brauchen. Das dritte Kind erfährt erst, über die Westmedien, daß seine Eltern und Brüder im Westen sind. Drei Tage zuvor hatte der Sechzehnjährige seine Mutter in der U-Haftanstalt besucht, da war noch klar, daß die Familie in der DDR bleibt. Vera war schon zu sechs Monaten verurteilt, die Berufung stand noch aus. Sechs Monate zuviel im Kampf für Emanzipation und Identität? Und die anderen? Warum haben sie nicht auf ihren Prozeß gewartet? Der hätte erst einmal durchgeführt werden sollen.

Ist die Friedensbewegung ein Spiel, bei dem nach Belieben ein- und ausgestiegen wird, ein Trittbrett für die persönliche Karriere? Ist Solidarität nur eine Einbahnstraße? Und wo bleibt die Verantwortung für die hier Kämpfenden?

Wie erklären wir den schnellen Abgang den 250 Osteuropäern (Russen, Ungarn, Polen, Jugoslawen, Tschechoslowaken), die zusammen mehr als 1.000 Jahre Knast abgesessen haben und sich in einer gemeinsamen Erklärung solidarisch erwiesen?

Die lakonische Bemerkung eines chilenischen Freundes war: „Es waren schwache Revolutionäre." Die Inhaftierten gingen als politische Personen in den Knast, verlassen haben sie ihn als Privatpersonen. Eine Metamorphose in maximal 14 Tagen. Viele verweisen auf menschliche Schwächen, wenn sie das Verhalten der Betroffenen erklären wollen. Aber hat jemand von denen von eigenem Versagen oder menschlicher Schwäche gesprochen? Statt dessen Schuldzuweisungen an Staatsorgane, Kirchenleitung und Rechtsanwalt. Seit wann wird denn der Staatssicherheit geglaubt, auch wenn sie zehn Jahre Gefängnis verspricht? Wieso waren plötzlich die Kirchenleitung bzw. der Bischof die Vertrauenspersonen? Gerade die Mitglieder der Initiative, aber auch Freya, Stephan und Vera, haben sich als kirchenkritisch verstanden. Auch über Wolfgang Schnur ist von allen Beteiligten nach Zion Kritisches geäußert worden. Wir wußten doch sehr genau, was er leisten kann (und er hat es geleistet bis zur physischen und psychischen Erschöpfung) und was er nicht leisten kann. Bemerkten die Gefangenen nicht irgendwann, daß es den Staatsorganen nicht um ihre Verurteilung, sondern um schnelle Ausreise ging? Daß sie Privilegien hatten? Zu welchen Gefangenen kommt denn der Bischof in den Knast? Wem wird so oft Kontakt zur Außenwelt zugestanden? Bei meiner Inhaftierung 1979 mußte ich sechs Wochen warten, ehe der Anwalt kam. Den ersten Angehörigen habe ich nach acht Wochen gesehen. Das Verhalten der nun mehr oder weniger Ausgereisten ist eine politische und moralische Bankrotterklärung.

Bleibe im Lande und wehre dich täglich - die Gruppen und die Ausreiser

Nach dem 17. Januar kam die Ausreiseproblematik verstärkt in die Öffentlichkeit. Die Koordinierungsgruppe versuchte über ein Delegiertensystem (jede Gruppe zwei Vertreter) die Zahl der Ausreisewilligen in der eigenen Gruppe zu begrenzen. Am 5. Februar beschloss die Koordinierungsgruppe dann die Absetzung der Andachten", weil

1. durch immer zahlreichere Teilnahme von Menschen mit Ausreiseanträgen unser Anliegen zunehmend verzerrt wurde;

2. es aus diesem Umfeld zu Provokationen kam, die einen Mißbrauch der Andachten darstellten...". Zu einem Eklat mit den Antragstellern war es nach der Andacht am 2. Februar in Friedrichsfelde gekommen, als sich eine Gruppe von ca. 100 Personen um den Altar versammelte mit den Rufen: „Wo ist die Presse! Wir machen eine Pressekonferenz! - Morgen treffen wir uns um 14.00 Uhr vor dem Büro Vogel, um für unsere Ausreise zu demonstrieren." Erst nach einer 11stundigen Diskussion, in der Rechtsanwalt Schnur, Konsistorialpräsident Stolpe u. a. den Ausreisern klarzumachen versuchten, daß sie die Solidarität brächen, wenn sie nur ihre egoistischen Ziele durchsetzen wollten, ließen sie von ihrem Vorhaben ab. Aufgrund des Ansturms von Ausreisewilligen schloß die ÜB für zwei Wochen und sagte ihre Veranstaltungen ab. Auch andere Veranstaltungen der Kirche und der Gruppen wurden und werden von den Ausreisern genutzt, um sich zu organisieren und Demonstrationen vorzubereiten. Die Kirchenleitungen machten sich in den letzten Wochen für eine rechtliche Regelung der Ausreisegenehmigungen stark. Dieses Thema bekam ein solches Übergewicht, daß mensch annehmen könnte, wäre erst das Recht auf die freie Wahl des Wohnsitzes staatsrechtlich geregelt, wären die innenpolitischen Probleme der DDR gelöst. Die Ausreisewelle ist aber ein Symptom der inneren Situation der DDR, nicht umgekehrt!

Die Gruppen haben untereinander noch keinen Konsens zur Problematik gefunden. Die scharfe Distanzierung in der öffentlichen Erklärung der KvU vom 20.2. verschwand aus der Erklärung vom 26.3. und wurde in eine Bitte an die Ausreiser umgewandelt, daß sie die inhaltliche Arbeit von Gruppen, denen es um gesellschaftliche Veränderungen in der DDR geht, nicht gefährden und zerstören, sondern respektieren mögen. Der schriftliche Vorschlag für einen Minimalkonsens, der zur Zeit in den Gruppen kursiert, fordert eine Solidarisierung mit den Antragstellern, unabhängig von deren politischem Standpunkt oder ihrer Motivation. Ich spreche mich hier entschieden gegen jede politische Zusammenarbeit und Solidarisierung mit Ausreisewilligen aus. Unsere Arbeit ist auf Veränderungen in unserer Gesellschaft orientiert. Eine politische Zusammenarbeit mit Menschen, die jede Hoffnung auf Veränderung hier aufgegeben haben, macht unsere Arbeit unglaubwürdig und diffamiert die Friedensbewequng in den Augen vieler als Sprungbrett in den Westen. Leben und Arbeiten in dieser Friedensbewegung heißt, Verantwortung zu übernehmen für Frieden, Umwelt, die Gesellschaft, die Menschen, mit denen ich lebe und kämpfe. Sie läßt sich nicht auf Fragen individuellen Rechts verweisen. Egoismus haben wir in letzter Zeit genug erlebt. Es gilt, sich auch dagegen zu wehren. Das heißt nicht, daß wir uns abwenden wollen von menschlicher Tragik, daß wir nicht dagegen auftreten, wenn Antragsteller ihren Arbeitsplatz verlieren o. a. Schikanen unterworfen werden. In der politischen Zielsetzung kann es aber keine Gemeinsamkeit mit Ausreisern geben. Die Friedensbewegung muss sich ihrer Krise stellen.

Wir haben an Glaubwürdigkeit verloren, unsere Integrität ist in Frage gestellt aufgrund der schnellen Ausreise der Inhaftierten, unserer undeutlichen Haltungen und auch der fehlenden Inhalte. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir ein Spiegelbild der organisierten Verantwortungslosigkeit abgeben, kämpfen wir für unsere eigenen, individuellen Rechte oder liegt uns die gesamte DDR-Gesellschaft (die nicht identisch ist mit dem Staat oder der Staatspartei) am Kopf und am Herzen (oder im Bauch)? Sind es nur Lippenbekenntnisse, wenn wir sagen, daß die Friedens- und Umweltproblematik nicht mehr staatlich-national, sondern global zu lösen ist? Meinen wir es ernst, wenn wir den Hunger in der 2/3 Welt beklagen, unsere Solidarität Befreiungs- und Alternativbewequngen in Ost und West, Nord und Süd bekunden oder ist für uns Westeuropa das bessere Europa (vielleicht mit Ausnahme der Türkei), weil die Menschenrechte dort angeblich mehr gewährleistet sind als hier? Warum haben unsere Ausgereisten, als sie mehrere Tage im Zentrum der Medienaufmerksamkeit standen, die Gelegenheit nicht genutzt, um klarzustellen, daß sie nicht meinen, im Paradies angekommen zu sein. Warum haben sie nicht die Gelegenheit ergriffen, sich für politische Häftlinge in der BRD einzusetzen, die jahrelang in Isolierhaft sitzen, der Kontaktsperre zu Verwandten und Anwälten unterliegen, zu dreimal lebenslänglich verurteilt wurden (wie Peter Jürgen Boock), ohne daß ihm eine Straftat nachgewiesen werden konnte? Sind wir DDR-fixiert oder lassen wir uns blenden durch Händedrücken von Grünen oder CDU- Abgeordneten? Machen wir uns abhängig von den Westmedien und sagen und schreiben nur noch, was auch durch die Zensur der Chefetage der FAZ kommt? Auch die „alternative" taz will manche Erklärungen nicht drucken, wenn sie ihr zu linkslastig sind und nicht ins DDR-Bild der Redaktion passen.

Wie nun weiter?

In vielen realsozialistischen Ländern üben sich die Führungen in Sachen Reform. Von der SU schallen die Begriffe Glasnost und Perestroika herüber. Nur die Chefdenker in der DDR meinen, die Tapeten vergilben hier nie. Wir haben keinen Grund zur Resignation, noch sollten wir im Nachsprechen von Schlagwörtern unsere Inhalte sehen. Was eine Alternativbewegung zur gesellschaftlichen Alternative werden läßt, ist neben ihrer politischen und moralischen Integrität, daß sie machbare Alternativen anzubieten hat, daß sie über Sachkenntnisse verfügt.

Daß das möglich ist, zeigen Gruppen wie: Morsche Meiler, die sich mit der Atomenergie auseinandersetzt, Arbeitswelt in der DDR, Strafrecht in der DDR, Südafrika AG u. a. Viele Friedenskreise hangeln sich von einem Thema zum nächsten, ohne in die Tiefe zu gehen bzw. von einer Aktion zur nächsten. Nicht alle Kreise können alles machen. Daher ist Arbeitsteilung notwendig und gegenseitige Information bzw. Diskussion. Die Stärke der grün-alternativen Bewegung war, daß sie zu vielen Detailfragen die kompetenteren Antworten geben konnten.

Was wir an Organisationsformen haben, reicht aus. Wir sollten nicht in Organisationsspielereien verfallen. Die Friedensbewegung läßt sich nicht zentralisieren, und Formen können nicht gemeinsame Inhalte und Aktionen ersetzen.

Es war ein Fehler der Koordinierungsgruppe, die Abgrenzung von den Ausreisern organisatorisch über ein Delegiertensystem durchzusetzen, statt deutlich festzustellen, daß es zwischen den Gruppen und den Ausreisern keine gemeinsamen politischen Ziele geben kann. Die Zusammenarbeit hätte sich auf die Gruppe „Konkrete Solidarität" beschränken sollen. Hier wäre gemeinsame praktische Arbeit möglich gewesen, ohne notwendige politische Abgrenzung.

Viele, die jetzt aufgewacht waren und sich engagieren wollten, wurden durch das rigide Delegiertensystem der K.-Gruppe vor den Kopf gestoßen bzw. demotiviert. Bei der Aktion um Zion wurden Versuche, eine Koordinierungsgruppe zu gründen, von der Vollversammlung der Mahnwächter schon in der Anfangsphase abgewiesen. Die Form der Vollversammlung hat sich für mich als die wirksamere erwiesen. Der blinde Aktionismus der letzten Zeit hat uns ebenfalls geschadet. Ziele und Inhalte von Aktionen sollten länger zwischen den Gruppen diskutiert werden, damit die Basis verbreitert werden kann. Während wir uns hier in DDR-Provinzialismus üben, wird unser Erdball durch Krisen geschüttelt:

- mehr als 200 Palästinenser in den letzten drei Monaten ermordet durch das israelische Militär,

- 5.000 Bewohner einer kurdischen Stadt durch chemische Kampfstoffe getötet,

- in Mocambique 1/3 der Bevölkerung am Verhungern,

- täglich Mord und Folter in Südafrika,

- mehr als 100 Tote seit Jahresanfang im Bürgerkrieg in Nordirland,

- Bürgerkrieg in Sri Lanka, auf den Philippinen, in El Salvador, Peru, Kolumbien, Afghanistan, Angola...

- militärische Drohungen der USA gegen Panama und Nikaragua, - steigende Verschuldung und Verelendung in der 2/3 Welt,

- Abschwung der kapitalistischen Wirtschaft, Börsenkrach,

- in der BRD neben 2,5 Mio. Arbeitslosen 3 Mio. Sozialhilfeempfänger, schärfere Demonstrationsgesetze - der Atomstaat wird aufgebaut, Asylanten werden abgeschoben (oft in den sicheren Tod).

Der Kapitalismus oder vornehmer: der bürgerlich-demokratische Parlamentarismus kann unsere Hoffnung, unsere Zukunft, unser Ziel nicht sein. Und der real existierende Sozialismus?

Die Bereitschaft zur Abrüstung ist in den sozialistischen Ländern sehr groß. Zahlreiche Vorschläge wurden in den letzten Jahren gemacht. Der Westen blockt, versucht soviele Vorteile wie möglich herauszuschlagen, verzögert die Abrüstungsverhandlungen. Denn er weiß, auch in den sozialistischen Ländern kriselt es: Nationalitätenproblematik in der SU, wirtschaftliche Probleme in Polen, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien. In einigen sozialistischen Ländern gibt es die ersten Arbeitslosen. Die DDR ist von diesen Problemen bisher einigermaßen verschont geblieben. Da wir aber auf keinem anderen Planeten leben, ist es unwahrscheinlich, daß wir von all dem verschont bleiben. Ob aus der SU in den nächsten Jahren eine Lösung des gordischen Knotens zu erwarten ist, werden wir sehen. Natürlich müssen wir alles unterstützen, was sich in Richtung Emanzipation, Gerechtigkeit, Mündigkeit, Friedenssicherung und Bewahrung der Umwelt bewegt. Nur müssen wir dabei unseren eigenen Kopf etwas stärker beanspruchen.

Reinhard Schult (Mitarbeiter des Friedenskreises Friedrichsfelde)

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