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Dokumente zur Umwelt-Bibliothek
DOKUMENT 2
Aus Umweltblätter, 12. Februar 1988
Versuch eines ersten Kommentars
Der Ausgang der Luxemburg-Affäre ist deprimierend und scheint unheilverkündend in die Zukunft zu weisen. Eine nie dagewesene Solidaritätswelle im ganzen Land wurde zuerst durch den Abgang von Stephan Krawczyk und Freya Klier, dann fast aller anderen Inhaftierten in den Westen, gebrochen. Viele Menschen, die zum erstenmal einen politischen und gesellschaftlichen Impuls entwickelten, wurden schwer enttäuscht. Die Friedensbewegung ist in den Ruch einer Ausreißerbewegung gekommen. Mußten denn unsere Leute gehen, wird im Lande gefragt, konnten sie nicht Prozeß und Haft auf sich nehmen, konnten sie nicht mindestens den Prozeß oder die Haftzeit abwarten?
Sie konnten nicht. Es wurde ihnen gesagt, daß sie entweder jetzt gehen müssen oder niemals mehr. Und mindestens in solchen Fragen pflegen unsere Staatsorgane ihr Wort zu halten. In der Tat wurden die Dinge in verdächtiger Eile abgewickelt und die Schlußfolgerung, daß man gar nicht zum Prozeß kommen wollte, ist sicher richtig. Aber daraus kann nicht der Schluß gezogen werden, daß die Inhaftierten am längeren Hebel saßen. Als vor Jahren dem Diakon Lothar Rochau der Prozeß drohte, meinte er, daß er viel verträgt, drei Jahre, bei mehr geht er. Die Organe gaben ihm prompt genau drei Jahre. Es hätte auch mehr sein können - je nach Kapazität. Auf Drängen seiner Frau gab Rochau auf und stellte den Antrag. Ebenso wie Rochau hatten die meisten Inhaftierten Kinder und hätten diese an Fremde geben müssen. Und 5 oder 10 Jahre im besten Fall vertrödelte Jahre des Lebens, im schlimmeren Fall im ständigen nervenaufreibenden Kampf gegen kriminelle Mithäftlinge - das ist sehr viel und eigentlich eine für Menschen unabschätzbar lange Zeit.
Im Mittelalter wurden unbeliebte Menschen im Fluß ertränkt, in der Nazizeit wurden sie zu Tode gequält. Der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg blieb es vorbehalten, die möglicherweise humanere, aber ebenso effektive Lösung der Endlagerung von gefährlichen Menschen im Ausland zu erfinden. Für die Freunde, für die gesamte Gesellschaft in der DDR, die dringend verantwortliche Bürger braucht, ist es ebenso, als hätte man Stephan, Freya, Vera, Wolfgang, Bärbel, Lotte, Werner, Ralph und Bert ertränkt. Sie sind nicht mehr da, ihr Platz ist leer, sie fehlen.
Aber nicht nur deshalb ging die Solidaritätsbewegung unter. Die Flut von atomisierten Ausreisewilligen, die plötzlich in Berlin über uns hereinbrach, spaltete unsere Bewegung, usurpierte und zerstörte Strukturen der Friedensbewegung, machte uns ratlos. In Berlin wurde das Problem umso krasser, als niemand von uns bisher sich mit der Problematik der Ausreisewilligen beschäftigt hatte und unser erster und einziger Impuls die Abgrenzung war. Zudem war die existierende und wieder aufgebaute Staatsbürgerschaftsgruppe gegenüber einem Massenansturm von Menschen machtlos, die solidarisierungs- und gruppenunfähig sind und erst in einem längeren Prozeß lernen könnten, daß sie nur gemeinsam und solidarisch ihre Interessen vertreten können.
Natürlich werden wir uns auch nicht in Zukunft dafür einsetzen können, daß alle Ausreisewilligen das Land verlassen, aber wir werden uns in dem Sinne mit ihnen solidarisieren müssen, daß wir klar feststellen, daß das Problem der Massenflucht ein politisches Problem ist. Es kann nicht gelöst werden durch die Ausreise von 300.000 oder mehr Menschen - das kann kaum ein Land der Welt ökonomisch verkraften, auf keinen Fall unser kleines Ländchen. Das Problem muß gelöst werden durch Änderung der politischen Strukturen, durch mehr Mitspracherechte der Bevölkerung und Kontrolle der Behörden, durch mehr Toleranz, durch Presse-, Versammlungs- und Redefreiheit, durch mehr Spielraum für freie Bürgerinitiativen, durch eine Humanisierung der DDR-Gesetze und durch Rechtssicherheit. Kurz durch Schaffung eines politischen Klimas, das niemand mehr zum Verlassen des Landes animiert. Und übrigens wird sich zeigen, daß eine solche politische Reform auch so manches ökonomische Problem löst.
Aber auch wir und unser Bundesgenosse in dieser Affäre, die Brandenburger Kirche, versagten. Der Koordinationskreis wurde aufgrund der mangelnden Beteiligung der entschiedeneren Basisgruppen und der mechanischen Repräsentanz aller, auch völlig inaktiver Gruppen, und aufgrund des fehlenden Drucks der Öffentlichkeit zunehmend allein gelassen und entwickelte sich zur bürokratischen Maschine, die, je länger desto unproduktiver, lief. Info-Papiere und Erklärungen waren nicht mehr eigenverantwortliches Produkt von entschiedenen Basisgruppen, sondern wurden in Beratungen kleingehäckselt bzw. ganz blockiert. Den letzten Punkt entnehmen wir der Erklärung der Kirche von Unten vom 20. Februar:
»... Auch Kirchenleitung und Rechtsanwälte stehen unter dem Verdacht, die Konfliktlösung durch Abschiebung, wenn nicht schon grundsätzlich, so doch praktisch, als sogenannte humanitäre Hilfe unterstützt zu haben. Damit geraten sie in den Verdacht der Komplizenschaft und machen sich zum Vollstreckungsgehilfen ... Wer die Konfliktlösung durch Abschiebung unterstützt, macht sein Eintreten für die, die verantwortlich in dieser Gesellschaft leben wollen, unglaubwürdig ...«
»Der Kirchenleitung ist es nur ungenügend gelungen, zwischen denen, die ausreisen wollen und denen, die aus Verantwortung im Land bleiben wollen und gehandelt haben, zu unterscheiden. « Er hält »die Einrichtung einer Beratungsstelle für Ausreisende trotz der absichernden Erklärung mindestens zu diesem Zeitpunkt für eine Fehlentscheidung«.
Die KvU protestiert dagegen, »daß damit Ausreisewilligen in der Kirche ein Dach angeboten wird, progressive Kräfte hingegen verdächtigt werden, unter dem Dach der Kirche Zuflucht zu suchen. So werden den Staatsorganen willkommene Argumente geliefert, wie die Äußerungen des Staatsratsvorsitzenden gegenüber Herrn Lambsdorff beweisen ...«
Die KvU schließt, daß sie jetzt eine »eindeutige Stellungnahme der Kirchenleitung (erhofft) zugunsten derer, die in diesem Land sich verantwortlich und kritisch engagieren und in diesem Land bleiben, denn Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie - unbeschadet aller diakonischen Aufgaben - vorrangig für die Zukunft auf das Reich Gottes hin eintritt«.
Soweit die KvU in ihren Ausführungen zur Rolle der Kirchenleitung.
Hauptproblem aber dieser Affäre ist eine Regierung, die glaubt, auf den lebendigen Dialog mit der Bevölkerung verzichten zu können und durch ständig neue konservative Roßkuren seit Jahren die besten Kräfte systematisch aus dem Lande treibt und die Probleme des Landes durch Schönrederei zu lösen versucht. Es ist aber vergeblich zu glauben, daß die Zeit stehenbleibt, wenn die Zeiger der Uhr abgebrochen werden. Wir fordern die dialogwilligen Kräfte innerhalb der SED auf, endlich Farbe zu bekennen und Position zu zeigen. Die Verantwortung für das Schicksal des Landes liegt in einem überschweren Sinn in ihrer Hand.
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